Schweigend sprechen
Kennen Sie das? Sie sitzen über einem Buch, haben oben links mit dem Lesen angefangen, sind der Seite nach unten gefolgt, lesen oben rechts weiter, um dann wieder mit den Augen nach unten zu schweifen. Sie stützen die Ellbogen auf und schauen ins Leere. Was haben sie sich gemerkt? Was ist das für ein Schriftsteller? Was ist das für ein Buch? Ich versuche mich zu erinnern. Eine Landschaft? Ein alter Mann in einem dürren Monat? Nichts ist bei mir angekommen. Ich klappe das Buch zu. Heute ist wohl nicht mein Lesetag.
Ich spreche schweigend.
Was fällt zu Boden, wenn ich mein Herz ausschütte?
Dieses Gefühl ist mir vertraut, seit ich ein Kind war. Ich hätte etwas zu reklamieren gehabt, war zu unsicher, zu schüchtern und schaute nur. Dachte, man wird meinen Augen ablesen können, was ich denke.
„Einer der nicht spricht, hat nichts zu sagen.”
„Hast du keine Meinung? Lass hören, was du denkst!”
Ich sitze in einem Warteraum, studiere die Leute, denke mir aus, was für Geschichten sie haben, wo sie wohnen, mit wem sie zusammen sind, was für eine Krankheit sie haben, ob sie bald sterben werden. Wüssten sie, was ich denke, wären sie irritiert, kämen sich vorgeführt vor.
Zum Beispiel diese Frau. Sie sieht aus, als hätte sie Schmerzen. Sie sitzt da, den Oberkörper vorgebeugt.
„Wenn Sie wollen“, sage ich, „können Sie vorgehen, ich habe Zeit.”
„Nicht nötig”, sagt die Frau, „ich habe auch Zeit. Mir ist nur kalt. Die heizen so schlecht. Hier drinnen hat es keine achtzehn Grad.”
„Ich finde es nicht kalt”, sage ich, „wahrscheinlich fühlen Sie sich krank, da friert man gern.“
„Ich habe kein Fieber. Denken Sie nicht, dass ich Corona habe! Tun Sie das nicht! Ich arbeite im Krankenhaus, ich bin letzte Woche getestet worden.”
„In einer Woche kann viel passierten”, sagt der Mann neben ihr, „kaum ist man getestet, steckt man sich an.”
„Dann hätte ich Fieber, und Fieber habe ich nicht. Fieber ist das erste Indiz.”
„Es muss nicht bei jedem gleich sein”, sagt der Mann. „Ein Kollege hatte Corona und Untertemperatur.”
„Ein Einzelfall”, sagt die Frau.
Ich denke, Ausnahmen bestätigen die Regel. Was ist das wieder für ein zäher Tag. Kann ich nur in Plattitüden denken? Nichts geht vorwärts. Wenn doch nur schon morgen wäre. Und wie wird es morgen sein? Bahnt sich eine Depression an?
„Ich halte diese Corona-Gespräche nicht mehr aus”, sagt der Mann. „Soll ich Ihnen allen einen Witz erzählen? Irmi, fragt der Vater, woher willst du wissen, dass Hans dich heiraten will? Wenn ich mit ihm einkaufen gehe, gefallen ihm immer die billigsten Kleider. Das war der Witz. Danke.”
„Naja”, sagt die Frau zu mir, „wenn Ihr Angebot noch steht, würde ich gern vorgehen.“
„Ich bitte darum”, sage ich.
„Wüssten sie, was ich denke, wären sie irritiert, kämen sich vorgeführt vor.“
Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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