Zusammenhalt statt Schuldzuweisung
Das Coronavirus ist unberechenbar, die Pandemie unkalkulierbar. Niemand kann konkret vorhersagen, wie sich das Virus verbreitet und mutiert, wie mit ihm am besten umzugehen ist und wie man es besiegen kann. Wer vermag uns schlüssig zu erklären, weshalb manche Regionen von der ersten Welle verschont waren und die Erkrankungsraten dort jetzt explodieren, weshalb das als Vorbild geltende Deutschland jetzt überrollt wird oder wie im Ursprungsland China die Feste wieder gefeiert werden können, als sei nichts gewesen? Das Virus scheint sich wenig um die Forderung nach Planungssicherheit zu kümmern und hält sich, welche Unverschämtheit, nicht einmal an die viel beschworenen Gesamtkonzepte.
„Die Zeit der allgemeinen Unsicherheit ist die große Zeit von Besserwisserei, Destruktivkritik und Schuldzuweisung.“
Die Zeit der allgemeinen Unsicherheit ist die große Zeit von Besserwisserei, Destruktivkritik und Schuldzuweisung. All jene, die es schon lange gewusst haben und uns jetzt erklären, wie man es richtig gemacht hätte, haben Hochkonjunktur. Selbst viele Wissenschaftler präsentieren jetzt stolz ihre Vergangenheitsprognosen, sagen aber kein Wort mehr zu den damaligen Simulationskurven. Vergessen ist, was uns im Sommer ereifert hat: zu langsame Lockerung der Maßnahmen, falsche Formulierungen der Krisenerlässe, Reise- oder Partybeschränkungen und ähnliche Probleme. Von einer 10- bis 20-fach stärkeren Welle bereits im wärmsten September seit Menschengedenken war damals keine Rede.
Aus all den Erfahrungen, die wir mit Corona machen müssen, kann man eines sicher folgern: Die wirksamsten Gegenmittel sind Zusammenhalt und Solidarität. Diesen verdanken wir hauptsächlich die gute Bewältigung der ersten Welle, haben uns dann aber wenig darauf besonnen. Spaltung statt Vereinigung, destruktive statt konstruktiver Kritik, Schuldzuweisung statt Unterstützung, Entwertung statt Wertschätzung haben die öffentliche Diskussion beherrscht. Die nach wie vor von vielen Menschen gelebte Hilfe, von Balkonkonzerten bis zu Hausbesuchen, von Anerkennung für Systemberufe bis Bewunderung der Pflegenden, hat nicht mehr die nötige Beachtung gefunden.
Weihnachten ist das Fest des Friedens, der Hoffnung, der Liebe. Der Weihnachtsbotschaft können wir aber auch entnehmen, wie essenziell mitmenschliches Zusammenhalten in jeder Not wäre – man denke an Lesbos – und dass sich der Erlösungsgedanke auch auf Schuld bezieht. Der in diesem Jahr besondere Weihnachtswunsch soll deshalb neben Gesundheit und Glück besonders Befreiung von Schuldzuweisung und Hoffnung auf gemeinsame Lösungen enthalten.
Univ.-Prof. Prim. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut
und früherer Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene.
Kommentar