„Ungleichheit droht zu steigen“

AK-Experte für Vermögenssteuer: Immer mehr haben nicht einmal einen „Notgroschen“.
WIEN „Nach dem Krieg sind alle gleich“, lautet der Titel eines Buches, in dem der Historiker Walter Scheidel die These aufstellt, dass die Schere zwischen Arm und Reich in gewöhnlichen Zeiten auseinandergeht und sich im Zuge von Katastrophen wieder schließt. Die einen hätten dann nämlich nichts zu verlieren und die anderen würden das verlieren, was sie besitzen. Matthias Schnetzer verweist auf dieses Buch, um zu widersprechen: „Ich glaube nicht, dass die Coronakrise ein großer Gleichmacher ist.“ Im Gegenteil: „Die Ungleichheit droht zu steigen.“
Ausgeprägte Ungleichverteilung
Der gebürtige Schlinser beschäftigt sich seit seinem Studium mit Vermögensverteilung, ist als Ökonom vielfach ausgezeichnet, hat einen Lehrauftrag an der Wiener Wirtschaftsuniversität und ist bei der Arbeiterkammer beschäftigt. Sie spricht sich so wie Sozialdemokraten und Grüne für eine Besteuerung von Vermögen aus.
Österreich zählt laut dem 37-Jährigen schon heute zu den Industrieländern mit einer besonders großen Ungleichverteilung: Bis zu 40 Prozent des Gesamtvermögens gehöre dem obersten Prozent der Haushalte. Abgesehen davon, dass sich das beeindruckend anhört, kann man jedoch die Frage aufwerfen, wo das Problem liegt. Schnetzer: Superreiche hätten durch Lobbying, Parteispenden und dergleichen einen größeren Einfluss auf die Politik. „Dadurch kann die Demokratie in eine Schieflage geraten.“ Auf der anderen Seite federe der Sozialstaat für die Masse zwar sehr viel ab. Immer mehr Menschen hätten aber nicht einmal mehr einen Notgroschen.
Untersuchungen untermauern die Annahme des Vorarlbergers, dass sich diese Entwicklung infolge der Coronakrise verschärft. Laut Nationalbank wird viel mehr gespart. Oft handelt es sich dabei um ein Zwangs- oder ein Vorsichtssparen. Das eine ist darauf zurückzuführen, dass es aufgrund der Lockdowns nur eingeschränkt möglich ist, Geld auszugeben.
Nicht alle Reichen werden reicher
Das andere dient der Absicherung im Hinblick auf eine ungewisse Zukunft. Das können sich aber nicht alle leisten. Im Gegenteil: Die ING-Bank hat im Sommer festgestellt, dass es immer mehr Menschen gibt, die gar keine Ersparnisse mehr haben. Auf einen sogenannten Notgroschen von bis zu drei Monatseinkommen kann nur noch ein Drittel der Österreicher zurückgreifen. Matthias Schnetzer betont, dass nicht alle Reichen in der Krise reicher werden: Viele Unternehmen würden an Wert verlieren, einige pleite gehen. Das setzt den Eigentümern zu. Wer viel Geld hat, hat aber bessere Chancen, es gewinnbringend einzusetzen: Aktienkurse befinden sich schon wieder mehr oder weniger auf Vorkrisenniveau, der Goldpreis liegt gar darüber. In den vergangenen Jahren bildeten Immobilien ein ziemlich lukratives Investment.
Die AK hat eine Vermögensbesteuerung durchgerechnet. Finanz- und Immobilienvermögen (abzüglich Schulden) bis zu zehn Millionen würden demnach gar nicht belastet werden. Ab zehn Millionen Euro würde der Steuersatz zwei Prozent, ab 100 Millionen drei und ab einer Milliarde vier Prozent betragen. Laut Schnetzer könnten damit fünfeinhalb bis sieben Milliarden Euro pro Jahr zusammenkommen.
Das wäre seinen Angaben zufolge eine Summe, mit der sich eine Steuerstrukturreform durchführen ließe. Konkret: Abgaben auf Arbeit, die in Österreich besonders hoch sind, könnten reduziert werden. „Leistung würde damit gefördert werden.“ JOH
„Ich glaube nicht, dass die Coronakrise ein großer Gleichmacher ist.“