Verschwörungsmythen: eine Gefahr ohne Gegenmittel
Die Attacke auf das Washingtoner Kapitol ist zum Verzweifeln. Nicht nur, weil Hunderte gewaltbereite Trump-Anhänger das Herz der amerikanischen Demokratie stürmen. Nicht nur, weil der amerikanische Präsident eine große Schuld dafür trägt. Nicht nur, weil eine staatstragende republikanische Partei sich daran unrühmlich beteiligt. Nein. Es ist die Rolle von Lügen, Verschwörungsmythen und Hass sowie die Ratlosigkeit, wie man dem begegnen soll, wie wir Journalisten dem begegnen können, die verzweifeln lässt. Denn spätestens wenn sich die Lügen ihren Weg in die Realität bahnen, wird es gefährlich:
Verschwörungsmythen sind eine Gefahr für demokratische Institutionen: Die Wahl wurde kontrolliert, von Zigtausenden HelferInnen begleitet, beobachtet und nach Einsprüchen von mehreren Gerichten bestätigt. Dennoch trommelt das Lager eines amtierenden amerikanischen Präsidenten das Märchen der Wahlfälschung. Ohne Beweis, aber immer wieder. Er zerstört das Vertrauen in diese Institutionen nachhaltig. Wie sich das auf eine demokratische Gesellschaft und deren Politik, Justiz und Medien auswirkt, werden wir in den USA in den nächsten Jahren beobachten können.
Verschwörungsmythen sind eine Gefahr für Menschen: Speziell ein Vorfall aus dem Wahlkampf 2016 lässt kopfschüttelnd zurück. Ein bewaffneter Mann stürmt eine Pizzeria und schießt um sich. Und zwar deshalb: Mehrere dubiose Portale berichten seit Wochen über eine Lüge, wonach Hillary Clinton am Kopf eines Kinderpornorings stünde und die Pizzeria als Drehscheibe diene; inklusive gefangene Kindersklaven im Keller. Wer glaubt so etwas? Zumindest einer, der mit einer Waffe in der Hand eine Pizzeria erstürmt. Nun sind auch ins Kapitol Menschen marschiert, die von Lügen angestachelt wurden. Mittlerweile heißt es in einschlägigen Kreisen: Es sei eine False-Flag-Aktion der Antifa. Oder noch besser: von „radikalen Liberalen“. Radikale Liberale … wow.
Verschwörungsmythen sind eine Gefahr für die Gesundheit: Womit wir wieder in der Gegenwart wären. Masken sind gefährlich? Corona eine Erfindung bzw. ungefährlich bzw. ein Instrument der Finanzwirtschaft etc.? Impfungen und 5G, Chiptechnologie, Knechtschaft, Sophie Scholl, Bill Gates… unfassbar, was man da alles hört. Selbst im Bekanntenkreis gibt es Menschen, die es sich auf diesen Positionen gemütlich gemacht haben. Sie sind angenehm, weil sie eine Erklärung für etwas bieten, was so schwer zu fassen ist. Gleichzeitig sterben in den Krankenhäusern soviele Menschen wie noch nie, ein Blick in die Todesanzeigen reicht. Statt sich am Gemeinwohl zu orientieren und auch einmal auf die anderen zu schauen, lässt man seinem Egoismus (ICH trage keine Maske, ICH lass mich nicht impfen, ICH bin eh nicht in der Risikogruppe) freien Lauf. Zur Argumentation dienen besagte Verschwörungsmythen. Auch dafür sind sie bequem.
Ach ja, schon einmal etwas von Qanon gehört? Skurriler geht es kaum, aber Millionen Menschen halten dieses gefährliche Märchen für wahr. Mitten drin befinden sich jene, die das Kapitol stürmten (siehe das ORF-Interview dazu: https://www.youtube.com/watch?v=22d6tRXxVeg&feature=youtu.be).
Wieso funktionieren solche Mythen und Lügen? Vieles hängt mit der Mediensituation zusammen. Das Vertrauen in Journalismus und Journalisten schwindet. Gerade in Zeiten wie diesen wären die Stärken des Journalismus gefragt: Journalisten sind ausgebildet, können sich hauptberuflich Themen widmen, Fragen stellen, Dinge hinterfragen und sich in die Materie einarbeiten. Sie bereiten Nachrichten für jene auf, die keine Zeit haben, sich den ganzen Tag damit auseinanderzusetzen (ja ich weiß, das ist der Idealfall. Der Alltag in Redaktionsstuben ist aus budgetären und personellen Gründen natürlich nicht immer so). Noch immer schätzen viele Menschen diese wichtige Aufgabe. Aber mindestens so viele vertrauen den Journalisten nicht mehr. Sie lesen keine Zeitung, schauen keine Nachrichten, hören kein Radio. Das Internet ist die primäre Informationsquelle geworden. Da meine ich nicht die Auftritte von seriösen Portalen, sondern obskure Verschwörungsseiten, seltsame Youtube-Channels, einschlägige Telegram-Kanäle; der Algorithmus wird zum Nachrichtenlieferant. Wir kennen die Arbeitsweise des Algorithmus: Er liefert more of the same. Keine Meinungsvielfalt und vor allem keine Fakten, die Mythen widerlegen.
Was also tun? Die Antwort fehlt bisher. Wir Journalisten können nur eines anbieten. Immer wieder ist zu lesen, dass Medien gekauft sind. Dass Journalisten nicht schreiben können, was sie wollen. Immer mehr Menschen erklären den Journalisten, wie ihr Job funktioniert. Es wäre doch ganz einfach: fragt uns einfach! Schreibt mir, schreibt Kollegen. Wir sind auch nur Menschen mit einem Job. Auch mit uns kann man einfach reden.
Aber wie diese Spirale der sich stets selbst bestätigenden verfestigten Meinung, die durch Lügen angetrieben wird, gestoppt werden kann, ist ein Rätsel. Donald Trump und seine Anhänger sind nicht die Ursache, sie sind ein Symptom.
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