Die große und die kleine Welt
Aus der kleinen Welt kommt die kleine Frau, und ich frage mich, hat sie es nicht glücklicher, als die aus der großen Welt? Sie ist vierundneunzig Jahre alt, die Zahl ausgeschrieben, macht es noch deutlicher. So alt ist diese kleine Frau geworden, hat fünf Kinder großgezogen, ist zufrieden mit der kleinen Welt, bereut nichts und war zu allen rechtschaffen, wie zu sich selbst. So zart ist sie, ihr Gesicht fast durchscheinend. Ich treffe sie bisweilen – wir haben ähnliche Zeiten beim Spaziergang. Beide bleiben wir stehen. Wir wünschen uns ein gutes Neues Jahr. Wir sind uns beinahe vertraut, durch die wenigen Male.
Ich sage zu ihr: „Sicher werden Sie hundert Jahre werden!“
Und sie sagt: „Wenn es mir so beschieden ist.“ Zufriedenheit, sagt sie, sei das Wort, das sie ihr Leben lang begleite, auch Nachsicht. Jeder macht Fehler, auch sie habe so viele Fehler gemacht. „Verzeihen können“, sagt sie.
Ich sage: „Ich glaube nicht, dass sie viele Fehler gemacht haben.
Sie: „Halt die Fehler, die jeder so macht.“
Sie ist dankbar, dass sie nie Schmerzen leiden musste. Ich nehme an, sie war immer hart mit sich selbst, hat die Schmerzen einfach nicht zugelassen. Und was ihr Glück sei: „Ein klarer Kopf, gut denken zu können, ist mein Glück. Kein Nebel im Kopf.“ Einmal in der Woche kommt eine Frau, die nach ihr sieht, sie badet und cremt, weil die Haut der alten Menschen so dünn ist und gern reißt. Sie erzählte mir, dass sie eine Frau kenne, die leider vernebelt sei, so dass sie niemanden mehr erkenne, nicht einmal ihren Mann, nicht ihre Kinder, nicht ihre Verwandten, nicht ihre Nachbarn. Dabei sei sie erst knapp über siebzig.
Als sie das erzählt, greife ich mir ans Herz, das könnte ja ich sein. Habt Dank da oben, dass ich nicht vernebelt bin. Diese vernebelte Frau sei einmal in der Badewanne gelegen, aus der Nachbarschaft tönte ein Lied:
Es ist ein Ros entsprungen
aus einer Wurzel zart,
wie uns die Alten sungen,
von Jesse kam die Art
und hat ein Blümlein bracht
mitten im kalten Winter
wohl zu der halben Nacht.
Da geschah es, dass die Frau in der Badewanne das Lied fortführte, bis zum Ende, den richtigen Text sang sie. Gibt es das? Was Musik nicht alles vermag! Kennt den Text, aber ihren Mann nicht. Darum singe den alten Menschen Lieder vor, auf dass sie sie vollenden.
Dann: die große Welt
Welt: Ein Mann, der es nicht ertragen kann, verloren zu haben.
„Zufriedenheit, sagt sie, sei das Wort, das sie ihr Leben lang begleite, auch Nachsicht.“
Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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