Das unberechenbare Virus
Seit Beginn der Weltseuche haben Prognostiker und wissenschaftliche Interpreten Hochkonjunktur. Sie überschlagen sich in Vorhersagen, präsentieren stets neue Kurven und aktuelle Modelle, schwanken zwischen Katastrophenszenarien und Beruhigung und haben es im Nachhinein immer schon gewusst. Wir alle haben uns, Hand aufs Herz, in der Pandemieeinschätzung schon getäuscht und wollen an die seinerzeitigen Prophezeiungen lieber nicht mehr erinnert werden. Wenn wir heute die Fach- und Laienmeinungen etwa vom Juni 2020 replizieren, wissen Sie, wovon ich da spreche.
Unter meinen eigenen Analysen hat sich nur eine als richtig erwiesen, nämlich jene, dass ein Virus unkalkulierbar ist. Niemand weiß, ob und wie der Erreger mutiert, ob seine Infektiosität steigt oder die Letalität abnimmt, welch neuen Varianten auftreten und wie sich die Seuche verbreitet. Weshalb ist der langzeitliche „Musterknabe“ Portugal jetzt zum europäischen Hotspot geworden und warum wirkt in Deutschland der dort früh eingesetzte harte Lockdown nicht mehr richtig? Blickt man über den österreichischen Tellerrand hinaus, sieht man, dass die Probleme mit Corona überall die gleichen sind und auch die gleichen Diskussionen geführt werden. Nun kann man durchaus streiten, ob die einzelnen Maßnahmen richtig waren, zu streng oder zu locker, oder ob es bessere Möglichkeiten gäbe. Wenn die fortlaufenden Änderungen aber als Konzeptlosigkeit und Chaos bezeichnet werden oder skandalisierend nach Planungssicherheit gerufen wird, heißt dies, die Grundregeln der Krisenbewältigung oder des Blindfluges nicht zu verstehen. In solchen Situationen sind Flexibilität, fortlaufende Modifikationen und rasches Reagieren Gebote des Überlebens. Stures Festhalten an rigiden Plänen hieße zwangsläufig, einen Titanic-Kurs zu steuern. Die guttuende Sachlichkeit der Ärzteschaft in dieser Diskussion erklärt sich wohl damit, dass diese in ihrem Beruf sehr oft neu entscheiden und Behandlungskonzepte unvermittelt ändern müssen.
Ganze Arbeit haben aber die im Hintergrund wirkenden biochemischen Forschungsteams geleistet, denen es gelungen ist, in kürzester Zeit wirksame Impfungen zu entwickeln. Diese Leistung, die in Anbetracht der schweren Fassbarkeit des Virus auch in der Therapie nicht genug gewürdigt werden kann, gibt Hoffnung. Ein wenig Hoffnung lässt uns aber auch die gerade beklagte Unkalkulierbarkeit des Virus: Dieser kann sich auch zu einer harmlosen Variante mutieren oder einfach verschwinden.
„Unter meinen eigenen Analysen hat sich nur eine als richtig erwiesen, nämlich jene, dass ein Virus unkalkulierbar ist.“
Reinhard Haller
reinhard.haller@vn.at
Univ.-Prof. Prim. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut
und früherer Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene.
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