„Nie aufgeben, immer weitermachen“

Ilse Karola Cirtek hat in Afghanistan ihr Gehör verloren.
Bludenz Frau Cirtek hat viel von der Welt gesehen. In Europa hat die Seniorin, die heute ihren 102. Geburtstag feiert, fast alle Länder bereist. Zu den ferneren Destinationen zählen Island, Israel, Ägypten, Indien, Kaschmir, Afghanistan, Pakistan, Iran.
Es geschah in Afghanistan, im Mai 1978. Auf der Fahrt zur Stadt Herat durch das „Tal des Todes“ erkrankte Ilse Karola Cirtek an Meningitis: „Ich bin bewusstlos geworden, und von den darauffolgenden Ereignissen habe ich nichts mitbekommen.“ Die Schwerkranke wurde nach drei Tagen Behandlung im Krankenhaus in Herat mittels Ambulanzflugzeug nach München transportiert, wo sie in einem Spitalsbett aufwachte. „Ich hatte keine Ahnung, warum ich da gelandet bin.“ Ihr fehlt eine ganze Woche Erinnerung.
Musik im Blut
Eine bleibende Folge der Hirnhautentzündung ist der Verlust des Gehörs. So ist es seit 42 Jahren still in ihrer Welt. „Trotzdem kann ich sprechen“, betont Frau Cirtek.
Heute, mehr als ihr halbes Leben später, sitzt sie auf der Eckbank am Wohnzimmertisch in ihrem Haus in Rungelin. Behutsam blättert sie die Seiten ihres Reisetagebuchs um, erinnert sich beim Betrachten der Fotos – „ich habe alle selber gemacht“ – an prägende Momente. Dann lässt sie ihre Gedanken tiefer in die Vergangenheit schweifen, bis an den Anfang ihres Lebens, das am 6. Februar 1919 im Schwarzwald begonnen hat.
Knapp drei Monate zuvor ging der Erste Weltkrieg zu Ende, und das Deutsche Kaiserreich wurde zur Weimarer Republik erklärt. Im Land herrschten Chaos und große Not, die Bevölkerung litt Hunger. So war es auch in Kirchheim unter Teck, jener Stadt in Baden-Württemberg, in der Ilse Karola Thoma – so hieß sie damals noch – mit ihren Eltern und drei Brüdern aufgewachsen ist. Die Realschulabsolventin konnte bereits mit sechs Jahren Klavier spielen. Später lernte sie auch Geige und Bratsche spielen. „Ich habe Musik im Blut“, sagt sie, „mein Vater und meine Mutter waren Musiklehrer in einem Konservatorium.“
1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, ging Ilse Karola Thoma ihre erste Ehe ein. Die Trennung von ihrem Mann, 17 Jahre später, hatte ein psychisch bedingtes Asthma-
leiden zur Folge. 1966 nahm sie an einem Wanderurlaub auf der Insel Korsika teil, um die anhaltenden asthmatischen Beschwerden zu lindern. Dort begegnete sie Ferdinand Cirtek. Mit dem acht Jahre älteren Diplom-Ingenieur aus Bludenz verband sie von Anfang an reges Interesse an Kunst und Kultur.
Geheiratet wurde 1968 in Bludenz, nachdem sie von Kirchheim unter Teck zu ihm übersiedelt war. Gleich nach ihrer Ankunft wurde sie Mitglied des Städtischen Orchesters Bludenz: „Ich spielte Bratsche.“ Außerdem gab sie Klavierunterricht.
„Die Musik war meine Leidenschaft, mein Lebensinhalt.“ Bis zu jenem Tag im Mai 1978, als die Hirnhautentzündung ihre Gehörnerven zerstörte. Die gleichzeitig aufgetretene Störung des Gleichgewichtssinns hat sie indes innerhalb eines Jahres mit speziellem Training „und eiserner Disziplin“ behoben. Die Taubheit ist geblieben, „und ich musste mich neu orientieren“. Dann erlitt ihr Mann einen Schlaganfall, von dem er sich nie mehr vollständig erholen konnte: „Er hat sich zurückgezogen in seine eigene Welt. Bis zu seinem Tod.“ Ferdinand Cirtek starb 1994.
Trotz der Schicksalsschläge hat die Schwäbin mit deutschem und österreichischem Pass Optimismus und Humor bewahrt. „Ich habe in meinem Leben immer alles angenommen, wie es gekommen ist. Ich habe nie aufgegeben, sondern bin immer wieder aufgestanden und habe weitergemacht“, stellt sie klar. Die rüstige Seniorin bewältigt etwa noch immer ihren Alltag weitgehend selbstständig. „Denn man kann viel, wenn man will, vor allem, wenn man muss“, resümiert sie. Sie macht die Wäsche, räumt auf, kocht.“ Das Einkaufen und Putzen überlässt sie dem Mobilen Hilfsdienst. Die MoHi-Frauen, bringen ihr auch ihre Lieblingsspeise, Schweinshaxen, wenn sie Lust darauf verspürt. „Am liebsten mag ich die Schwarte“, gesteht sie und lacht.
Gedanken übers Sterben
Mit drei Frauen pflegt Frau Cirtek besondere Verbindungen: Mit ihrer Nachbarin Irene Gfrerer, die immer für sie da ist. Mit ihrer langjährigen Weggefährtin Herlinde Eichberger, die mit ihr einst im Orchester gespielt hat. Mit Elsa Hartmann, die seit etwa einem Jahr ihre persönliche Betreuerin, Vertrauensperson und Freundin ist.
Wie denken Sie über das Sterben, Frau Cirtek? „Leider kann man das Sterben nicht ausprobieren. Demnach bleibt es etwas Unbekanntes. Angst habe ich aber nicht davor.“
„Ich habe in meinem Leben immer alles angenommen, wie es gekommen ist.“