Pflegen, nicht verludern
Nach Sozialdemokraten (2017) und Freiheitlichen (2019) sind nun also auch die Grünen in einer Regierung mit der neuen ÖVP von Sebastian Kurz gescheitert: Sie können leidlich darüber hinwegtäuschen, gewissermaßen „lahme Enten“ zu sein, wie man in den USA sagen würde: Zwar noch im Amt, aber ohne Macht. Auch ihre letzte Hoffnung, zumindest für den Klimaschutz ganz Wesentliches weiterzubringen, zerschlägt sich: ÖVP-Arbeits- und Schattenfinanzminister Martin Kocher lässt seit Wochen wissen, dass es unmittelbar nach der Krise keine Steuererhöhungen geben sollte. Begründung: Das wäre sehr kritisch für die konjunkturelle Entwicklung. Schon eine Ökologisierung der Normverbrauchsabgabe ist den Türkisen zuletzt zu weit gegangen.
Noch aber macht den Grünen etwas ganz anderes mehr zu schaffen: Die Abschiebung von Kindern, die ÖVP-Innenminister Karl Nehammer betreibt. Auch hier muss man sich wundern, dass Kogler und Co. so tun, als würde sie das überraschen. Das war und ist türkise Politik, Kurz hat vor Beginn der Zusammenarbeit mit den Grünen ausdrücklich betont, dass es damit weitergehe. Er hat nur Wort gehalten.
Keine Partnerschaft
Andererseits: Hat die ÖVP mit ihren 37,5 Prozent Stimmenanteil Anspruch darauf, so zu tun, als würde sie über 100 Prozent verfügen? Beziehungsweise in der tagtäglichen Arbeit zu ignorieren, dass ihr Koalitionspartner auch bestimmte Vorstellungen hat? Was ist denn das für eine Vorstellung von Partnerschaft, ja von Demokratie? ÖVP-Klubobmann August Wöginger hat bereits wissen lassen, dass man die (grüne) Kindeswohlkommission, die die ehemalige OGH-Präsidentin und Neos-Abgeordnete Irmgard Griss leiten wird und die das Bleiberecht beleben soll, nicht einmal ignorieren werde.
Begründung: Es stehe nichts dergleichen im Regierungsprogramm. Gegenfrage: Stand die Coronakrise ebendort? Also: Man tut, was nötig ist und vernünftig erscheint.
Schwarz-türkises Doppel
Vernünftig wäre es laut ÖVP-Landeshauptmann Markus Wallner, sich Einzelfälle genauer anzuschauen und möglicherweise anders zu entschieden. Vorarlberg hätte das jedenfalls so gemacht. Angeblich. Zweifeln lässt der Umstand, dass türkise Nationalratsabgeordnete aus dem Ländle in Wien exakt gar nicht lobbyieren dafür, sondern sich ausschließlich dem zentralen Klubzwang unterwerfen. Das riecht nach einem Doppelspiel.
Am schlimmsten bei der ganzen Sache ist jedoch, dass selbst Erinnerungen an Moral und Menschlichkeit nicht mehr gelten, wenn es um eine Abwägung zwischen Bleiberecht oder Abschiebung geht.
Dabei kann es sich gerade dabei um sehr prinzipielle Zugänge handeln, die auf Menschenrechten, also explizit auch Rechtsstaatlichkeit mit klaren Gesetzen und fairen Verfahren, basieren. Das gehört gepflegt. Und nicht verludert.
„Am schlimmsten ist, dass selbst Erinnerungen an Moral und Menschlichkeit nicht mehr gelten.“
Johannes Huber
johannes.huber@vn.at
Johannes Huber betreibt die Seite dieSubstanz.at – Analysen und Hintergründe zur Politik.
Kommentar