Erschöpfte Eltern und ängstliche Kinder durch Corona

Dauerbelastung durch Pandemie wird zum Problem.
Bregenz Die Mutter klingt verzweifelt: „Meine 15-jährige Tochter geht nicht mehr aus ihrem Zimmer. Sie zieht sich immer mehr zurück. Ich komme nicht mehr an sie heran.“ Gespräche dieser Art gehören für Alexandra Ghetta (51) seit Monaten zum Arbeitsalltag. Sie leitet die Kinder- und Jugendberatung beim Institut für Sozialdienste (IfS) und bekommt die Auswirkungen der anhaltenden Coronapandemie hautnah zu spüren. „Bei Eltern macht sich Erschöpfung breit, bei Kindern und Jugendlichen sind es Ängste“, erzählt Ghetta im VN-Gespräch. Die Nachfrage nach Hilfe ist groß. Es gibt bereits Wartezeiten von zwei bis drei Monaten, aber: „Wir versuchen, möglichst zeitnah ein Erstgespräch zu führen, um zu sondieren, was Eltern und Kinder brauchen.“ Danach wird die Zeit mit regelmäßigen Anrufen überbrückt. „Das Wissen um Perspektiven kann schon vieles beruhigen“, spricht Alexandra Ghetta von großen Kräften, die Familien haben, um Krisen zu bewältigen.
Das Heim als einzige Bühne
Als großes Problem stellt sich inzwischen die Dauerbelastung heraus. Sogar Kinder aus an sich sehr stabilen Familien zeigen jetzt Symptome, und die äußern sich vor allem in Ängsten. „Auch in Familien, wo Kinder gut unterstützt werden, wird die Eltern-Kind-Beziehung mehr und mehr belastet“, bestätigt die Psychotherapeutin. Mit ein Grund ist, dass sämtliche außerschulischen Aktivitäten nicht mehr stattfinden dürfen. „Es fehlen Bewegung, Spaß und Erfolgserlebnisse. Die einzige Bühne, die Kinder und Jugendliche haben, ist die Bühne zu Hause“, erklärt Alexandra Ghetta. Sie hofft deshalb sehr auf die Öffnung der Schulen und darauf, dass es durch die Entlastung der Eltern auch den Kindern wieder bessergeht, denn speziell nach dem ersten Lockdown entwickelten viele von ihnen Angst vor der Schule. „Sie schafften den Weg in die Schule nicht mehr.“ Persönlich mache sie sich vor allem Sorgen um die ab 15-Jährigen. „Die sieht niemand so genau.“ Jüngere Kinder dagegen würden sich rasch wieder fangen, „das haben wir im Sommer gesehen“.
„Häufig war schon vorher ein Berg an Problemen da. Corona bringt ihn zum Einsturz.“
Alexandra Ghetta, Psychotherapeutin
Ein Berg von Problemen
Kinder mit Ängsten fürchten auch Corona eher. „Sie bekommen die allgemeine Unruhe mit“, sagt Ghetta, und sie haben Angst, dass ihre Eltern, Großeltern oder sie selbst erkranken könnten. Da helfe eine gute Aufklärung. Corona allein macht aber kaum kindliche Krisen. „In den meisten Fällen war schon vorher ein Berg an Problemen da. Corona bringt ihn nur zum Einsturz“, beschreibt Alexandra Ghetta. Die eng vernetzte Zusammenarbeit aller, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, ermöglicht es, die jeweils passenden Therapien anbieten zu können. Eine Therapie in der freien Praxis finanzieren können laut Ghetta jedoch die wenigsten Eltern. Deshalb würde sie sich ein höheres Kontingent von gestützten nichtärztlichen Therapiestunden wünschen. Gleiches gilt für die personelle Seite, denn: „Alles, was wir heute im Kinder- und Jugendalter gut begleiten und auffangen können, ist ein Gewinn für die Zukunft.“
Eltern rät sie, einen abwechslungsreichen Alltag zu gestalten, sich mit den Kindern zu beschäftigen und wenn es gar nicht mehr geht, das Kind in schulische Betreuung zu schicken. „Bald kann man wieder hinausgehen, das ist ein Faktor, der vieles stabilisiert, aber leider das Pandemieproblem nicht löst“, bemerkt Alexandra Ghetta nachdenklich.