Schwere Versäumnisse vor der Terrornacht

Untersuchungskommission ortet grobe Mängel bei den Behörden.
Wien Es war der 2. November, als ein Attentäter in Wien vier Menschen tötete und 23 verletzte. Viele nutzten den Abend für einen letzten Lokalbesuch vor dem Lockdown; auch die Vorarlbergerin Claudia Walser, die zum Zeitpunkt des Attentats durch die Innenstadt spazierte. Plötzlich fielen Schüsse, berichtete sie den VN nach der Terrornacht: „Alle Leute sind in Panik kreuz und quer herumgerannt. Wir hatten Todesangst.“
Mängel bei Risikobewertung
Es dauerte nicht lange, bis sich die Berichte zu Pannen und Versäumnissen im Vorfeld des Attentats häuften. Hätten die Behörden den Anschlag verhindern können? Eine Untersuchungskommission sollte das klären. Drei Monate später legt sie ihren Abschlussbericht vor. Das Gremium unter Vorsitz der Wiener Strafrechtsexpertin Ingeborg Zerbes erkennt vor allem Mängel beim Verfassungsschutz, unter anderem bei der Risikobewertung für Gefährder. Beim Terrorismusstrafrecht sei kein Defizit ersichtlich.
Vom Schirm verschwunden
Schon im Zwischenbericht hatte die Zerbes-Kommission schwere Versäumnisse im Umgang mit dem späteren Attentäter aufgezeigt. Er saß 2019 wegen seiner Mitgliedschaft bei einer terroristische Vereinigung in Haft. Wie gesetzlich vorgesehen, wurde er vorzeitig bedingt entlassen; unter Auflagen von Bewährungshilfe bis Deradikalisierung. Dann ist der Mann laut Untersuchungskommission gleichermaßen vom Schirm des Verfassungsschutzes und der Justiz verschwunden. Die Kommunikation zwischen dem Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) und dem Wiener Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (LVT) funktionierte nicht. Die Behörden besprachen weder eine Gefährdungseinschätzung des Mannes noch mögliche Gegenmaßnahmen. Der IS-Anhänger konnte sich Mitte Juli 2020 in Wien mit radikalislamistischen Gleichgesinnten aus Deutschland und der Schweiz treffen. Wenig später reiste er nach Bratislava, um Munition zu kaufen. Sein Vorhaben scheiterte. Der slowakische Geheimdienst informierte seine österreichischen Kollegen aber darüber. Trotz alledem wurde das Risikopotenzial des späteren Attentäters nicht hochgestuft. Es gab Mängel bei der Informationsweitergabe, speziell an die Staatsanwaltschaft und übergeordnete Stellen, wie der Abschlussbericht zeigt. Die Meldepraxis des BVT an die Generaldirektion für die Öffentliche Sicherheit wäre verbesserungswürdig, schreibt die Kommission außerdem. Operative Lagebilder bezüglich islamistischem Extremismus und Terrorismus für Juli bis Oktober 2020 habe man der Kommission nicht vorlegen können. Ein Lagebild zu Foreign Terrorist Fighters, wozu auch der spätere Attentäter zu rechnen war, habe nur für 2019 existiert.
Suboptimale Ausbildung
Die Kommission bemängelt außerdem einen zu technokratischen Umgang bei der Risikobewertung terroristischer Straftäter. Die Ersteinschätzung beim späteren Attentäter sei nach zehn Monaten abgeschlossen gewesen, eine Zusammenschau war für Mitte November und somit zwei Wochen nach dem Attentat geplant. Es fehle eine Schnittstelle zwischen den Behörden. Die Ausbildung der mit der Risikobewertung betrauten Personen sei suboptimal gewesen.
„Der Anschlag macht kein Defizit des bestehenden Terrorismusstrafrechts sichtbar.“