Anstand muss nicht belohnt werden
Die anderen machen, was sie wollen! Urlaube, vielleicht sogar Partys, wer weiß, nur ich sitze brav zu Hause und halte mich an die Regeln, das ist so unfair! Die Pandemie zieht sich und diese Jammerei mancher wird immer lauter – ein Unmut, der verständlich ist, aber leider erfahrungsgemäß nirgendwohin führt. Ja, das gemeingefährliche Verhalten mancher Corona-Skeptiker und -Skeptikerinnen richtet sich gegen die Gemeinschaft und man muss es – wo möglich – unterbinden. Doch es geht jetzt eben nicht in erster Linie um die Frage: Bin ich der Trottel der Nation, wenn ich alle Maßnahmen befolge? Das Virus interessiert sich nicht für egozentrische Befindlichkeiten. Sondern nur für Virus-Angelegenheiten, also größtmögliche Verbreitung. Und wir müssen erkennen, dass unser ausgeprägter Individualismus an seine Grenzen stößt und uns das Kollektive schwerfällt, wenn es über den eigenen Familien- und Freundeskreis hinausgeht.
In der Pandemie zeigt sich auch, dass man nicht so stark auf Vernunft oder Rationalität bauen kann, wie erhofft. Die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen, bei denen vergangenen Samstag wieder Tausende ohne Maske und Abstandsregeln durch Wien marschierten, unter ihnen auch amtsbekannte Neonazis, veranschaulichen die vergiftete Atmosphäre.
Und da kommt sie wieder, die Frage: Bin ich der Trottel der Nation, wenn ich alle Maßnahmen befolge? Versuchen wir es einmal andersherum: Was wäre die Alternative: Selbst auf alle Vernunft pfeifen, um alles noch schlimmer zu machen? Ist es trottelig, seine eigene Gesundheit und die seines Umfelds möglichst gut zu schützen? Kann man auf eine Verbesserung der Gesamtsituation hoffen, wenn jede und jeder nur mehr seinen persönlichen Interessen nachgibt? Die Antwort auf diese Fragen: Nein. Nein. Nein.
Es gibt vor allem etwas, das nun gefragt wäre: Anstand – ich weiß, sehr altmodisch. Dabei wäre es ganz einfach: Es ist unanständig, ungeschützt Partys zu feiern oder andere generell mit seinem Verhalten zu gefährden. Natürlich macht anständiges Verhalten oft keinen Spaß, und niemand weiß, ob es gewürdigt oder irgendwann belohnt wird. Vom Anständig-Sein kann man sich nichts kaufen, auch ein Problem in der individualisierten Gesellschaft.
Anständiges Verhalten ist keine Leistung, mit der man sich aufspielen sollte. Es geht vor allem darum – bei allen eigenen Fehlern –, sein Verhalten zu reflektieren und daran zu arbeiten. Wenn wir uns bemühen, anständige Menschen zu sein, können wir jedenfalls besser mit uns und der Welt im Einklang leben. Gerade wenn wir so auf uns selbst zurückgeworfen sind wie in der derzeitigen Ausnahmesituation, nicht der schlechteste Gemütszustand.
„Natürlich macht anständiges Verhalten oft keinen Spaß, und niemand weiß, ob es gewürdigt oder irgendwann belohnt wird.“
Julia Ortner
julia.ortner@vn.at
Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln und lebt in Wien. Podcast: @ganzoffengesagt
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