Dann war der Krieg da

Und Rasim Hasovic hatte keine Wahl. Er musste gehen.
HÖRBRANZ Am 4. Mai 1992 fallen die ersten Schüsse in Cajnice. Der Bosnienkrieg hat nun auch diese Stadt im Osten des Landes erreicht. Begonnen hat er einen Monat zuvor in Sarajevo, als sich die jugoslawische Teilrepublik nach einem Referendum unabhängig erklärt hat. Bosniens Serben kämpfen jedoch um den Verbleib von Bosnien-Herzegowina in Jugoslawien, beziehungsweise was davon übrig ist, nachdem Slowenien und Kroatien sich 1991 losgekämpft haben.
An jenem Maitag sitzt Rasim Hasovic an seinem Schreibtisch in der Handelsfirma, in der er als Finanzbuchhalter tätig ist. Um kurz nach neun Uhr steht sein Chef, er ist Serbe, leichenblass vor ihm und warnt ihn vor den einmarschierenden bosnisch-serbischen Truppen: „Du musst weg. Jetzt!“ Hasovic ist Bosniake, mit 42 Jahren wehrfähig und sollte demnach als Soldat der bosnisch-muslimischen Streitkräfte an der Front sein. Er weigert sich aber zu kämpfen, Menschen zu erschießen. Bleibt er in Cajnice, drohen ihm Gefangenschaft und Tod.
Flucht nach Serbien
Hasovic steigt in seinen alten Lada und fährt los, über die nahe Grenze nach Montenegro und dann nach Serbien. Durch das kriegsbedingte Chaos im ganzen Land schlüpft er unbehelligt durch alle Militärcheckpoints. Fast sieben Stunden und 220 Kilometer später erreicht er Novi Pazar, wo seine Familie auf ihn wartet. Ehefrau Nezama und die Söhne Elmar und Salko (damals 12 und 7 Jahre alt) sind bereits im April in die südserbische Stadt zu Verwandten geflüchtet.
In Serbien können die Hasovics nicht bleiben. Sie hoffen, sich nach Deutschland durchzuschlagen. Die Reise geht nach Ungarn, von dort weiter nach Kroatien in die ostslawonische Stadt Osijek. „Die Kroaten forderten mich auf, heimzukehren und mich bei der bosnischen Armee zu melden“, erzählt Rasim Hasovic. Er kann aber nicht zurück. Daraufhin wird er zur HOS-Miliz (Kroatische Verteidigungskräfte) geschickt. Ein Freund warnt ihn indes davor, sich von den faschistischen Paramilitärs rekrutieren zu lassen. Das überlebe er als Bosniake nicht.
Einmal mehr begibt er sich samt Frau und Kindern auf die Flucht. Erneut geht es nach Ungarn. Dort streikt der Lada. Ein Ungar repariert ihn. Tags darauf fahren die Hasovics Richtung Österreich. Am österreichischen Grenzposten werden sie durchgewinkt. Hasovic kann sich bis heute nicht erklären, „warum wir nicht kontrolliert wurden“.
Beim Versuch, in Deutschland einzureisen, wird die Familie nach Österreich zurückgeschickt. Die Flucht endet schließlich am 15. September 1992 in Bregenz. Die Bahnhofsmission nimmt sich der Geflüchteten an. Drei Tage später übernimmt die Caritas und bringt die Familie in ein Haus in Thüringen, das für die nächsten Jahre ihr Zuhause ist.
1995 erhält die Familie den Flüchtlingsstatus nach der Genfer Konvention. Hasovic: „Damit durfte ich endlich arbeiten.“ Als Bilanzbuchhalter kann er hier nicht tätig sein, das weiß er. Er sattelt um, absolviert die Ausbildung zum Pflegeassistenten: „Mit 45 Jahren habe ich noch einmal die Schulbank gedrückt. Das wäre aber ohne Nezamas Unterstützung nicht möglich gewesen.“
Am 16. Dezember 1996, vier Tage nach seiner Prüfung, wird er im Sozialzentrum Josefsheim in Hörbranz angestellt. Auch Nezama bekommt einen Job. Das Salvatorkolleg beschäftigt sie als Küchenhilfe. Seitdem wohnt die Familie in Hörbranz. Sich zu integrieren sei ihm leichtgefallen, betont Rasim Hasovic. Deutsch lernte er bereits in der Schule, hier hat er seine Sprachkenntnisse in Kursen aufpoliert. Und da Integration für ihn keine Einbahnstraße ist, hat er gemeinsam mit Nezama die Bosnische Tanzgruppe Most (Brücke) gegründet.
Mit traditionellen Liedern und Tänzen spannt die Gruppe eine Brücke zwischen Bosnien und Vorarlberg. Zudem organisiert Hasovic als passionierter Schachspieler Integrations-Schachturniere mit Teilnehmern aus verschiedenen Nationen. (Coronabedingt ruht beides zurzeit.) Für sein freiwilliges Engagement in Integrationsprojekten der Landesregierung und der Stadt Dornbirn wurde er bereits vom Land geehrt.
„Ich bin glücklich in Vorarlberg“, resümiert Rasim Hasovic heute, 29 Jahre nach der Flucht und mittlerweile Pensionist und Großvater von zwei Enkeltöchtern. „Ich habe alles erreicht, um mit meiner Familie ein normales Leben führen zu können.“ Übrigens habe er früher nie daran gedacht, Cajnice, die Stadt in der er 1950 geboren wurde und in der er aufgewachsen ist, jemals zu verlassen. „Ich hatte alles, es ging mir gut. Doch dann war der Krieg da, und ich hatte keine Wahl.“
„Ich habe alles erreicht, um mit meiner Familie ein normales Leben führen zu können.