Meine Bagage
Sie werden das kennen: Sie beschäftigen sich intensiv mit einer Sache, ganz gleich, worum es sich handelt, und Sie können sich für nichts anderes mehr begeistern. Tag und Nacht laufen Sie mit Ihren Ideen herum.
So geht es mir mit meiner Bagage.
„Wir versammeln uns am Abend, Männer und Frauen, trinken alle Flaschen leer, sind aber nicht betrunken.“
Die Verstorbenen tun so, als würden sie noch leben, sie kommentieren mein Leben, machen mich auf Fehler aufmerksam, und wenn sie eine gute Luft haben, loben sie mich.
Zum Beispiel heute Nacht: Vati kam aus seiner himmlischen Bücherhöhle und wollte mit mir über Fiktion reden. Er kann sehr stur sein. Ich erklärte ihm, dass mich die Fiktion schützt, dass, wenn ich über meine Bagage schreibe und dabei erfinde, mir niemand an den Kragen gehen kann. Er hat mir erzählt, sie wohnen alle miteinander da oben in der Luft in einem sehr schönen Gebiet, Palmen gibt es und gleichzeitig Tannen, Olivenbäume und Mammutbäume und Schlingpflanzen.
„Also“, sagte ich zu ihm, „wohnt ihr in einer Art Urwald? Oder ist es Hollywood, eine Filmkulisse?“
„Das kannst du dir nicht vorstellen, weil es nur für die Verstorbenen gilt“, erklärt er mir. „Hör zu, Tochter, wir haben für uns ein abgezirkeltes Gebiet zur Verfügung. Einmal wollte die Tochter von Onkel Heinrich durch unser Tor eintreten, du kennst sie, es ist die Eingebildete, die nicht Schöne. Sie wollte ihren Vater sprechen, aber der zeigte sich nicht. Man kann sich hier oben nämlich auch zurückziehen. Sie hat es sich mit uns verscherzt, und deshalb musste sie wieder abdampfen. Ich denke, sie wohnt nun bei den Verbitterten. Sie gehört nicht mehr zur Bagage, zu diesen ganz besonderen Leuten, die furchtlos und treu zu Ihresgleichen sind. Manchmal, hör zu Tochter, halte ich Vorlesestunden ab, und sie kommen scharenweise und hören mir zu. Deine Mutti ist immer neben mir. Richard, dein Bruder, strawanzt am Zaun entlang, sieht nach den Tieren. Er hat behauptet, es gäbe Tiger hier heroben. Quatsch! Ich jedenfalls habe noch keinen gesehen. Onkel Sepp spielt immer wieder Schach mit mir. Wir haben es zur Meisterschaft gebracht. Er ist eine Spur besser, leider. Eine Schachweltmeisterin rief uns über den Zaun zu und gab uns Tipps. Wir haben sehr viel Zeit hier heroben. Onkel Walter hatte irgendwo Bier aufgetrieben, ich weiß nicht, wo man das hier organisieren kann. Ich mag Bier nicht. Da brachte er für mich Whisky. Er hat immer Frauen um sich, ist gar nicht wählerisch. Genauso wie unten in seinem Leben. Es gibt die ganze Bandbreite, er liebt sie alle, sagt er, du kennst ihn ja. Sie himmeln ihn an, komisch klingt das: anhimmeln im Himmel. Und dann womöglich eine Ewigkeit lang.
Wir versammeln uns am Abend, Männer und Frauen, trinken alle Flaschen leer, sind aber nicht betrunken. Man kann auch rauchen, und es ist nicht schädlich. Onkel Sepp behauptet, es sei sogar gesund. Es ist nur Nostalgie, was wir tun. Wir wissen nicht, ob wir es wiederholen möchten. Ich freue mich immer besonders, wenn Richard, mein Löwenherz, zu mir kommt, dein schneidiger Bruder. Er erzählt mir aus seinem Leben, Dinge, die ich nicht kannte, als wir beide noch lebten. Dass er einmal von Tante Irma abgehauen ist. Da war er acht Jahre alt. Er hatte sich in einer Höhle versteckt. Erst nach zwei Tagen haben sie ihn als vermisst gemeldet. Ein Bild war in der Zeitung, er in kurzen Hosen, mit einem Pullunder über dem weißen Hemd und mit Turnschuhen.“
Das und mehr hat mit mein Vater vom Himmel herunter erzählt …
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
Kommentar