Wildkatzen
Auf einer Baustelle wurde der Lockdown ausgerufen. Die Arbeiter aus Südosteuropa, raue Gesellen, langweilten sich. Sie saßen in ihren Büchsen, einer besuchte den anderen, sie tranken Bier und spannen Seemannsgarn auf dem Festland. Sie verständigten sich in einer Hilfssprache mit Händen und Augenrollen. Je näher der Abend kam, umso mehr wurden sie sentimental, sie sehnten sich ihre oder fremde Frauen herbei, zankten sich, schlugen sich, zeigten Kinderfotos und konnten lange nicht einschlafen.
Es ergab sich, dass zwei sich absentierten, Albaner, ein junger und ein älterer.
Adrian, der Ältere, war befreundet mit Semir, ihm gefiel, wie schön geformt er war. „Schön geformt“ hatte auch die Frau des Ingenieurs gesagt, als sie einmal auf der Baustelle gewesen war, um ihren Mann zu suchen.
Die beiden durchstreiften die Gegend.
„Weißt du, was Glimmkraut ist?“, fragte Adrian. „Weißt du, wie Blauschote riecht? Weißt du, wie Wacholder riecht? Was weißt du überhaupt?“
„Im Traum bin ich mit Tinte an den Fingern aufgewacht“, sagte Semir. „Dabei kann ich gar nicht schreiben“.
„Deinen Namen kannst du nicht schreiben?“
„Meinen Namen schon.“
„Immer wieder hatten sich die Männer in der Lockdown-Zeit um die vielen Wildkatzen gekümmert, die um die Baustelle herumschlichen.“
Einmal hatte die Frau des Ingenieurs, als sie wieder nach ihrem Mann gesucht und ihn nicht gefunden hatte, Semir gefragt, ob er mit ihr einen Tee trinken wolle. Er sagte zu, und sie schenkte ihm den Tee ihres Mannes aus der Thermoskanne ein.
„Was ist mit der Ingenieursfrau?“, fragte Adrian. „Triffst du sie?“
„Sie ist nicht so vornehm, wie sie tut“, sagte Semir. „Der Sex mit ihr ist o.k. Ihr hat er gefallen. Sie ist nicht verwöhnt. Du hast ja ihren Mann gesehen. Er wird bald sterben.“
Immer wieder hatten sich die Männer in der Lockdown-Zeit um die vielen Wildkatzen gekümmert, die um die Baustelle herumschlichen, sie hatten ihnen zu Fressen gegeben, sie gestreichelt und dabei an ihre Kinder gedacht. Eine dünne Katzenmutter kam in der Nacht zu Semir und schlief neben ihm. Sie war mager, rot und schwarz gestreift. Beim Spaziergang lief sie neben ihm her. Er hob sie auf und drückte sie an seine Brust.
Die Männer kamen am Haus des Ingenieurs vorbei. Die Frau trat heraus, und als sie Semir sah, winkte sie ihm, blieb aber stehen. Wahrscheinlich weil Adrian dabei war.
Semir ging auf die Frau zu und streckte ihr die Katze entgegen. „Sie ist wild“, sagte er. „Gefällt sie dir?“
„Wild wie du“, sagte die Frau.
Er wollte ihr die Katze in den Arm geben, da fuhr sie mit der Pfote aus und schlug der Frau über eine Gesichtshälfte. Die Frau schrie auf und rannte ins Haus.
„Und Mohnblumen kennst du auch nicht?“, fragte Adrian.
„Nein, nur Erdbeeren.“
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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