Das Haus
Wieder einmal stand ich vor dem Haus und bestaunte es. Es war ein gewöhnliches Haus, und kaum einer hätte es besonders gefunden. Auf mich aber strahlte es eine gemütliche Persönlichkeit aus. Lange stand es schon leer. Mir fiel auf, dass immer wieder das Aussehen der Fenster verändert wurde, ich meine, dass Vorhänge beiseitegeschoben waren oder zugezogen, Nachtvorhänge, dann wieder blanke Fenster. Man wollte den Anschein erwecken, als sei das Haus bewohnt.
„Soll ich Ihnen eine Geschichte von diesem Haus erzählen?“, fragte mich ein alter Herr. Ich kannte ihn vom Sehen. Er wusste, wem das Haus gehörte, gehört hatte, an wen es vererbt worden war, dass sich die Erben nicht einigen konnten, was mit dem Haus geschehen sollte und es deshalb leer stand. „Die Besitzerin dieses Hauses war eine sehr liebe Dame“, erzählte mir der alte Herr, „sie ist vor ein paar Jahren gestorben. Vor ihrem Tod war sie im Altersheim und ließ sich immer wieder von einer Pflegerin vor das Haus schieben. Da saß sie dann in ihrem Rollstuhl und schaute.“
Sie hatte eine junge Pflegerin, Lilli mit Namen, die sich um sie kümmerte. Keine wie sie konnte so zart ihre Haare bürsten. Sie hatte Vertrauen, und so fragte sie Lilli, ob sie bereit wäre, ihr Haus so aussehen zu lassen, als wäre es bewohnt. Sie sollte nur jeden Abend hingehen und die Fenster verändern. Lilli tat das gern.
Lilli kannte einen Mann, der arbeitslos war und dem sie nach langem Zögern erlaubte, in dem Haus der alten Dame zu schlafen. Sie nahm ihm das Versprechen ab, sich am Tag nicht vor den Nachbarn zu zeigen und auf keinen Fall zu rauchen. Sie war vernarrt in diesen Fremden, von dem sie nichts wusste. Das Haus schenkt mir nur den Schlaf, sagte er. Sie konnte ihm keine Bitte abschlagen. Es ergab sich, dass sie beinahe jeden Abend im Dunkeln am Tisch saßen und sich ihre mitgebrachten Speisen teilten. Der Fremde erzählte ihr, er würde um vier Uhr in der Früh das Haus verlassen und käme am Abend durch die Hintertür wieder in das Haus zurück. Es wurde eine Liebesbeziehung. Lilli achtete sehr darauf, dass nichts im Haus verändert wurde, und sie fand auch nie einen Grund zur Beanstandung. Einmal kam Lilli früher als sonst in das Haus, da fand sie ihn, zeichnend am Boden. Er hatte ein großes Blatt vor sich. Was er gezeichnet hatte, gefiel ihr sehr, Bäume, Tannen, Palmen, große und kleine Sträucher, Büsche und darunter stand: „Zu allem sagt man „Baum.“ Weil Lilli den Mann ganz für sich haben wollte, sich wünschte, er würde für immer bei ihr bleiben, wollte sie bei der alten Dame ein Geständnis ablegen und sie gleichzeitig bitten, mit ihrem Geliebten in das Haus ziehen zu dürfen. Sie hätte gern Miete bezahlt und war überzeugt, die Dame würde ihren Wunsch erfüllen. Aber es kam nicht so weit. Ein Nachbar hatte beobachtet, wie der Fremde abends in das Haus trat, des Morgens wieder heraus und so fort. Er verständigte die Polizei, und der Fremde wurde verhaftet.
„Wer war dieser Nachbar?“, fragte ich.
Da senkte der alte Herr den Kopf und zeigte auf sich.
„Warum nur haben Sie das gemacht?“, fragte ich ihn.
„Aus Langeweile.“
„Sie hatte Vertrauen, und so fragte sie Lilli, ob sie bereit wäre, ihr Haus so aussehen zu lassen, als wäre es bewohnt.“
Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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