Zu kurz gekommen
Wenn der FC Bayern ein Champions-League-Finale spielt, sagen wir gegen Paris Saint Germain, dann liest sich die Berichterstattung hinterher in Bayern und Paris völlig unterschiedlich. Freude hier, Depression da. Ein neutraler Blick auf die Partie ist für Beteiligte unmöglich.
Genau so verhält es sich mit der öffentlichen Wahrnehmung der Europäischen Union. Staatschefs fliegen zu Gipfeln, werden dort von Reportern aus ihrem Land interviewt. Diese funken nach Hause, wie der eigene Staatschef sich beim Auswärtsspiel bewährt. Ob die Taktik stimmt. Wie die anderen uns wahrnehmen. Beim Europäischen Rat gleich wie im Fußball. Interviews vor und nach der Partie. Selektive Wahrnehmung der eigenen Ballkontakte.
Bei physischen Treffen bringt jede Mannschaft ihre eigene Version der Wahrheit nach Hause. Jetzt, bei virtuellen Treffen, liegt die Deutungshoheit noch stärker im Heimatland. Die europäische Impfstoffverteilung, bei der Österreichs Bundeskanzler vehement die Meinung vertrat, dass wir auf dem “Impfstoff-Basar” der EU zu kurz gekommen seien, ist ein Paradebeispiel des Versuchs der eigenen Geschichtsschreibung.
Den vermeintlichen Verantwortlichen auf Beamtenebene identifiziert, in gesundheitsbedingter Abwesenheit des ressortzuständigen Gesundheitsministers öffentlich angezählt, wenig später entmachtet.
In einer Zeit, in der viele auf nichts dringlicher warten als auf eine Impfung, mag das eine unbequeme Wahrheit sein; es bleibt aber die Wahrheit. Die österreichische Bundesregierung hat für die österreichischen Bürger nicht die vollen Impfstoff-Kontingente ausgeschöpft, vor allem nicht bei Johnson & Johnson sowie BioNTech/Pfizer.
Während die Nervosität der Verantwortlichen steigt, sind das laute Schreien, die Ungerechtigkeits-Vorwürfe von Bundeskanzler Sebastian Kurz pure Nebelkerzen. Schon spätestens im Februar war aus Impflisten zu erkennen, dass Malta und Dänemark ein anderes Impftempo an den Tag legen (können), während Impfen auch bei uns in Vorarlberg impfstoffbedingt aktuell nur eine Wochenendangelegenheit ist. Ketchup-Flaschen-Effekt? Bisher Fehlanzeige.
Seit Langem wieder sind wir insgesamt in einer Situation, in der wir Europäer nicht mehr überheblich Amerika belächeln können. Die Partnerschaft mit der Impfstoffindustrie ist selbst Donald Trump wesentlich besser gelungen als der EU, obwohl es ein deutsches Unternehmen war, das den bisher besten Impfstoff vorgelegt hat.
In New York wird derzeit rund um die Uhr mit BioNTech/Pfizer geimpft, es gibt genügend US-Bundesstaaten, in denen bereits unter 50-Jährige geimpft werden. Und wir verlieren uns in Scheingefechten um das bisschen Impfstoff, das da ist.
Die geostrategische Wirkung hat Europa ebenso völlig außer Acht gelassen. Während wir untereinander streiten, impfen die Chinesen und Russen fleißig ihre Verbündeten und solche die es (wieder) werden wollen.
„Die Partnerschaft mit der Impfstoffindustrie ist selbst Donald Trump wesentlich besser gelungen als der EU.“
Gerold Riedmann
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Gerold Riedmann ist Chefredakteur der Vorarlberger Nachrichten.
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