Warum Mike Chukwuma beschlossen hat, einen anderen Weg zu gehen

VN-Reihe “Gekommen und geblieben”: Mike Chukwuma (67) kam die Liebe dazwischen.
Gaißau Jetzt ist es wieder in seinem Kopf. Er hört das Dröhnen der MIG 17. Er sieht, wie die Militärmaschine im Tiefflug über Biafra donnert und Bomben abwirft. Eine Bombe schlägt im Dorf ein, mitten auf dem Marktplatz. Auf den ohrenbetäubenden Knall folgen Schreien und Wimmern von Verwundeten. Er schaut sich um. Überall liegen Leichenteile. Gliedmaßen, der Kopf eines Mannes, undefinierbare Gewebefetzen. Er hat Glück. Kein einziger Splitter hat ihn getroffen. Die schrecklichen Bilder wird Mike Chukwuma jedoch nie mehr los. Er war 14 Jahre alt, als der Biafra-Krieg begann.
Biafra ist eine Provinz im Südosten von Nigeria – ein Vielvölkerstaat in Westafrika mit zwei Hauptreligionen, dem Christentum im Süden und dem Islam im Norden. Angeführt von der Volksgruppe Igbo erklärte Biafra 1967 die Unabhängigkeit, verlor diese aber wieder im Zuge des damals beginnenden, bis 1970 dauernden bewaffneten Konfliktes zwischen Nigeria und Biafra. Mindestens eine halbe Million Menschen kamen ums Leben.
Ein Igbo aus Ugbawka
Mike Chukwuma ist Igbo und Christ: „Ich stamme aus Ugbawka.“ Das ist ein Dorf im Bundesstaat Enugu im Südosten Nigerias. „Dort bin ich zwar nicht geboren und auch nicht aufgewachsen, aber dort gehöre ich hin.“ Geboren wurde er 1953 in der nordnigerianischen Stadt Zungeru, aufgewachsen ist er mit Vater, Mutter, drei Schwestern und drei Brüdern zuerst in Offa, einer Stadt in Südwest-Nigeria, dann in Zaria, einer Stadt im Norden.
Nach der Grundschulbildung verließ Mike Chukwuma den Norden und zog in den Süden, nach Enugu, um katholischer Priester zu werden. Im Rahmen der Priesterausbildung begann er ein Studium an der theologischen Fakultät. Durch ein Stipendium kam er 1980 nach Österreich und setzte das Theologiestudium an der Universität Innsbruck fort. Er nahm das Fach Philosophie dazu. Zwei Jahre später kehrte er mit zwei Magistertiteln nach Ugbawka zurück und wurde dort zum Priester geweiht. „In meinem Dorf bin ich Father Mike. Auch heute noch.“
Nach der Priesterweihe nahm er in Deutschland ein weiteres Theologiestudium auf, belegte zudem das Fach Politikwissenschaften. Beides schloss er mit dem Doktorat ab.
Der Umgang mit der deutschen Sprache war für ihn anfangs mühsam. „Ich hatte nicht vor, in Europa zu bleiben, sondern wollte nach dem Studium heimkehren. Deswegen habe ich mich nicht sonderlich bemüht, Deutsch zu lernen.“ Doch dann kam ihm die Liebe dazwischen. Er begegnete Simone.
Es fing 1982 an. Chukwumas Patin Martina Weiss, (die inzwischen verstorbene Seniorchefin von Weiss Reisen), schenkte ihm zum 29. Geburtstag eine Reise nach Paris. In dem Bus saß Simone, Pflegewissenschafterin aus Bregenz. „Ich verliebte mich in sie.“ Und sie sich in ihn. Nach mehreren Jahren reiflicher Überlegung beschloss Chukwuma, einen anderen Weg zu gehen. Er gab 1988 das Priestertum auf, heiratete Simone und wurde in den darauffolgenden Jahren Vater von drei Töchtern. Damals lebten die Chukwumas noch in Hörbranz, später in Götzis. Seit 25 Jahren bewohnen sie ein Einfamilienhaus in Gaißau.
„Wir geben armen Dorffrauen zinslose Darlehen, damit sie ihre Familien erhalten können.“
Mike Chukwuma, Theologe
Mike Chukwumas beruflicher Weg führte ihn 1989 zur Lebenshilfe Vorarlberg, wo er als Betreuer, Heimleiter, Werkstattleiter und religiöser Begleiter beschäftigt war. Zudem baute er mit der ehemaligen Lebenshilfe-Präsidentin Gabriele Nussbaumer den Verein für Menschen mit Behinderung, Füranand, auf. Ab 2002 arbeitete er in der Schweiz als Religionslehrer, Pastoralsoziologe und Pastoralassistent, bis er 2018 pensioniert wurde. „Jetzt, als Pensionist, habe ich genug Zeit für den ‚Freundeskreis zur Förderung von Entwicklungsprojekten‘.“ Dieser 1989 gegründete Verein unterstützt arme und behinderte Menschen in Dörfern des einstigen Biafra-Gebiets dabei, unabhängig und selbsterhaltend zu werden. „Wir helfen zerstörte Schulen zu renovieren, eine Krankenstation zu bauen. Wir helfen Behinderten, Berufe zu erlernen. Wir geben armen Dorffrauen zinslose Darlehen, damit sie ihre Familien erhalten können“, zählt Obmann Chukwuma Projekte auf.
Wunderbare Familie
Als Afrikaner wird Chukwuma oft mit Alltagsrassismus konfrontiert. Dazu meint er: „Im Leben ist nun mal nicht immer alles rosig. Aber ich erlebe sehr viel Positives, und das überwiegt.“ Allerdings war Rassismus ein Beweggrund, weshalb er sich 2001 den Grünen anschloss: „Denn diese Partei setzt sich für Benachteiligte und gegen Rassismus ein.“
Heimweh? „Ja, manchmal. Weil ich in Nigeria, in meinem Dorf, viele Angehörige habe. Aber ich lebe hier in Vorarlberg und freue mich, eine so wunderbare Familie zu haben.“
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