Drei Mal dem Tod knapp entronnen

Das Leben meinte es gut mit Ernst Lechthaler (93). Es gab ihm immer wieder eine Chance.
St. Gallenkirch Jedes Jahr im April wandern die Gedanken von Ernst Lechthaler (93) auf die Rüti. Mit diesem Maisäß in St. Gallenkirch verbinden ihn Kindheitserinnerungen. Seine Mutter und seine Großeltern zogen im April immer mit Sack und Pack vom Tal auf die Rüti. „Dort oben hatten wir für das Vieh mehr Wiese als in Galgenul.“ Die Lechthalers lebten von der Landwirtschaft. „Wir hatten sieben bis acht Stück Vieh.“ Wenn seine Mutter beim Viehmarkt in Schruns einmal im Jahr zwei Rinder verkaufen konnte, war das ein Freudentag für die Familie. Denn mit dem Verkaufserlös konnten die Lechthalers ein Jahr lang leben. „Wir mussten das Geld aber gut einteilen übers Jahr.“

Auf der Rüti musste Ernst beim Heuen helfen. „Wir Kinder hatten aber auch die Aufgabe, die Schafe und Ziegen zu füttern.“ Damals waren auf dem Maisäß noch alle Häuser bewohnt, zumindest von April bis Dezember. Trotzdem fand Ernst, dass auf der Rüti wenig los war. „Ich langweilte mich, weil nur wenige Kinder da waren.“ Aber eines gefiel dem Buben dort oben: „Ich konnte heimlich Pfeife rauchen.“ Er tat das mit Inbrunst, weil ihm ein Onkel einmal im Spaß gesagt hatte: „Ein Hirte, der nicht raucht, ist nichts wert.“ Dieses Laster begleitete Ernst noch viele Jahre. „1976 habe ich mit dem Rauchen aufgehört, weil ich kaum noch Luft bekam. Bis dahin habe ich 50 Zigaretten am Tag geraucht.“

Die Rüti und später die Alpe härteten ihn ab. Der Weg zur Schule war lang, er musste zu Fuß beschritten werden. In der Schule wurden damals zur Strafe noch Tatzen gegeben. „Die Lehrerin schlug uns auf die Finger oder auf den Rücken.“ Ernst war lieber beim Vieh als in der Schule. Mit zehn Jahren schickte man ihn zum ersten Mal auf die Alpe (Gargellen). Die Arbeit als Kleinhirte gefiel ihm. Insgesamt verbrachte der Bub fünf Sommer auf der Alpe.
“Jetzt, im Alter, denkt man über sein Leben nach.”
Ernst Lechthaler, Witwer
Mit 16 musste er die Bergidylle gegen das Soldatenleben eintauschen. Der Teenager wurde nach Jugoslawien einberufen. Der junge Mann aus dem Montafon überlebte den Krieg und die Gefangenschaft. „Viele meiner Mitgefangenen sind verhungert.“ Nachsatz: „In Slowenien wurden Kriegsgefangene lebend eingemauert.“ Ernst weilt öfters in der Vergangenheit. „Jetzt, im Alter, denkt man über sein Leben nach.“

Das Leben meinte es gut mit ihm und gab ihm immer wieder eine Chance. Ernst schlitterte ein paar Mal knapp am Tod vorbei. Einmal explodierte ein Hubschrauber in der Luft, mit dem er eigentlich mitfliegen hätte sollen. Der Partieführer bei der Wildbach- und Lawinenverbauung war an diesem Tag aber wegen einer anderen Baustelle verhindert. Statt seiner starb ein anderer. Ein andermal entging er nur knapp der Frattetobellawine. Ernst hatte in der Parzelle Hof gerade Milchproben entnommen, als sich die große Lawine löste und jenen Stall mitriss, in dem er sich wenige Minuten zuvor aufgehalten hatte. „Man glaubte, ich sei verschüttet worden und suchte nach mir.“ Auch im Jahr 1970 hatte er Glück im Unglück. Damals hätte ihn ein Blinddarmdurchbruch beinahe ins Grab gebracht. „Schwein gehabt“, resümiert der alte Mann kurz und bündig.
Glück in der Liebe
Glück hatte der Montafoner auch in der Liebe. 1954 heiratete er Huberta, die er bei einer Tanzveranstaltung kennengelernt hatte. 65 Jahre teilte das Paar das Leben miteinander. „Beide müssen den Egoismus ablegen“, verrät er das Geheimnis seiner langen, glücklichen Ehe. Erst der Tod trennte das Paar. Huberta starb vor zwei Jahren nach achtjährigem Siechtum. „Ihr Geist wurde immer schlechter.“ Es gab Momente, in denen ihn die Demenzerkrankung seiner Frau beelendete. Das war, als Huberta unbedingt ihre Mama besuchen wollte. „Meine Frau bat mich, sie zu ihrer Mutter zu fahren. Ich erfand verschiedene Ausreden, warum ich sie nicht nach Gaschurn fahren konnte. Drei Wochen lang bestand Huberta auf ihrem Wunsch. Dann vergaß sie es glücklicherweise.“ Der Tod seiner Ehefrau setzte Ernst arg zu. „Am liebsten wäre ich ihr nachgegangen.“ Als er sie zu Grabe trug, war ihm zum Weinen zumute. „Aber ich kann nicht weinen. Das letzte Mal habe ich als Kind geweint.“
