Eigene Fakten?
In Zeiten wie diesen kann einem die Wut schon hochkochen, wenn infizierte Leute sorglos feiern, sich in einer Medizinkrise entsolidarisieren, weil sie sich vom Staat geknebelt fühlen, da platzt auch Frau Ammann der Kragen. Fast alle Staaten, in denen die Pandemie wütet, haben sie mit Mitteln der Vorsorge bekämpft, bis auf wenige Länder wie Brasilien, wo ein ignoranter Staatschef das Virus als Grippekopie verhöhnte und damit eine Katastrophe auslöste – dort sterben zurzeit täglich mehr als 3000 Menschen an Covid und den Leugnern gehen langsam die Argumente aus.
Gefahr
Frau Ammann hat mir ein einschlägiges Buch von Richard Precht zum Emsbach mitgebracht, das „Von der Pflicht“ berichtet, die sich sowohl Staat als auch Bevölkerung in solidarischem Konsens zu Herzen nehmen sollten. Noch sind wir in Gefahr. Vor allem die Nichtgeimpften. Also sollten wir vorsichtig sein und Vorsorge und Schutzmaßnahmen nicht als faschistoide Knebelung begreifen, sondern im Gegenteil als Pflicht des Staates, unsere Gesundheit zu schützen. Die notwendigen Freiheitsbeschränkungen sind durch die Verfassung gedeckt. Wir müssen da durch. Gemeinsam. Zugegeben – Verhältnismäßigkeit ist Ermessenssache, die Pandemie war für alle Neuland und wo Menschen werkeln, werden Fehler gemacht, aber wir sollten nie den solidarischen Pfad der gegenseitigen Rücksichtnahme verlassen.
Private Feiern
Frau Ammann meint die privaten Feiern, die uns alle Fortschritte versauen können. Precht spricht sogar vom Kategorischen Imperativ, dass man nichts tun sollte, was man nicht durch andere erleiden will – die Freiheit des Einzelnen hört nämlich dort auf, wo sie die Freiheit anderer elementar einschränkt! Das sollten sich die Herrschaften im Parlament und die Empörer auf den Straßen, die auf Distanz und Maskenpflicht pfeifen, hinter die Ohren schreiben. Ihre Sorglosigkeit gefährdet das Leben anderer. „Die moderne Biopolitik in der Covidkrise ist nicht der größte Zivilisationsbruch seit 1945“, wie jüngst in Demonstrationen skandiert, “sondern der Versuch, einen solchen durch massenhaftes Sterbenlassen zu verhindern“, schreibt Precht.
„Die notwendigen Freiheitsbeschränkungen sind durch die Verfassung gedeckt. Wir müssen da durch. Gemeinsam.“
Erinnern Sie sich noch an gewisse Zynismen am Anfang der Pandemie? „Natürliche Auslese“, „die Alten sterben doch so oder so“ usw. – klang böse nach Sozialdarwinismus und viele, die heute auf den Straßen marschieren, haben ihn noch immer im Hinterkopf. Wir sollten uns auf die Fakten der Wissenschaft verlassen und nicht auf rechte oder linke Gurus im Netz. Und noch ein Satz, den Frau Ammann gern in Stein meißeln möchte: „Jeder hat das Recht auf seine eigene Meinung, ja, aber niemand hat das Recht auf eigene Fakten!!”
Reinhold Bilgeri ist Musiker, Schriftsteller und Filmemacher, er lebt als freischaffender Künstler in Lochau.
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