Reinhard Haller

Kommentar

Reinhard Haller

Wolfsgeschichte

Vorarlberg / 05.08.2021 • 11:00 Uhr / 3 Minuten Lesezeit

In der Ferienzeit sei es ausnahmsweise erlaubt, statt eines Kommentars eine Urlaubsgeschichte anderer Art zu erzählen:
Dieser Tage kam unsere Wandergruppe auf einer Schafsalm in Graubünden vorbei. Empfangen vom Gebell eines Herdenhundes, sahen wir dort vorbildlich umgesetzte Schutzmaßnahmen für eine Kleinherde von Schwarznasenschafen. Aus dem Fenster der Hütte beobachtete uns der Schäfer, Typ „Almöhi“, eher misstrauisch. Angesprochen auf die Wölfe, bedeckte der alte Mann sein Gesicht mit beiden Händen, ehe es aus ihm herausbrach:
Im letzten Jahr habe er 41 Schafe durch Wolfsriss verloren. Getötet nicht aus Hunger oder wegen Krankheit, sondern aus reiner „Mordlust“, wie er sagte. 48000 Franken habe er aus eigener Tasche in Schutzmaßnahmen investiert. Und weiter: „Die Wölfe bürden mir täglich vier Stunden unbezahlte Arbeit auf.” Nach langem Kampf habe er alles dem Enkel vermacht, der aber wohl bald resignieren werde, so wie viele seiner Kollegen. Verabschiedet wurden wir mit der beunruhigenden Aussicht, dass sich die in seinem Gebiet gezählten circa 40 Wolfswelpen mit Verzögerung sicher auch ins „Östrichische“ ausbreiten werden.
In dem längst zum Politikum gewordenen Streit geht es nicht gegen den Wolf oder den Schutz einer bedrohten Tierart, sondern um deren Ansiedlung in dafür nicht mehr tauglichen Regionen. Die oft vorgebrachte Forderung nach „Entemotionalisierung“ der Diskussion klingt für einen Psychotherapeuten angesichts der massakrierten Schafe, der traumatisierten Herden und der schwer frustrierten Hirten wie eine gefährliche Drohung. Soll das Mitleiden mit hilflosen Tieren, nur weil sie Schafe sind, unterdrückt und das Verständnis für die immer weniger werdenden Schäfer abgewürgt werden?

„Sich einmal der Mühe zu unterziehen, zu den Älplern hinauf zu wandern – und mit diesen einfach reden.

Wenn man nun die Verantwortung unter dem Schlagwort „wirksamer Herdenschutz“, der im hochalpinen Gelände nur im Kleinen möglich ist, mehr und mehr den Hirten zuschiebt, ist dies eine klassische Täter-Opfer-Umkehr. Jene, die die Wiederansiedlung des sich sprunghaft vermehrenden Raubtieres in unserer Almwelt mit Naturschutz und Tierliebe rechtfertigen, seien gefragt, weshalb diese Werte für Lämmer und immer häufiger zu Opfern werdende Esel, Ziegen und Kälber nicht gelten?
Den Entscheidungsträgern in den Büropalästen der EU und WHO sowie den Städtern, welche die Ansiedlung des Wolfes in unserer Bergwelt so „schnuckelig“ finden, sei ein schlichter Rat gegeben: Sich einmal der Mühe zu unterziehen, zu den Älplern hinauf zu wandern – und mit diesen einfach reden.

Univ.-Prof. Prim. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut

und früherer Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene.