Putins Krieg, Europas Ohnmacht
Der frühere schwedische Ministerpräsident Carl Bildt findet wenige Stunden nach dem Einmarsch Putins die Einordnung: Man müsse zurück zu Hitlers Überfall auf Polen im September 1939 gehen, um Vergleichbares zu Putins großflächiger Aggression gegen die Ukraine zu finden. Das Putin-Regime, ab sofort geächtet und ausgestoßen.
Wir sind tatsächlich aufgewacht in einer neuen Welt.
In einer Welt, in der die Luftschutzsirenen einer Drei-Millionen-Stadt wie Kiew heulen. In der Eltern ihren kleinen Kindern frühmorgens hastig den Skianzug anziehen, noch den Zusatzakku fürs Handy in den Rucksack packen, um dann gemeinsam in der Metro unterirdisch Schutz vor Putins Raketen zu suchen.
Putin hat es in nur einer Nacht geschafft, die westliche, freie Welt brutalst vor den Kopf zu stoßen. Es geht in dem unfassbaren Einmarsch in ein souveränes Land nicht um eine gesamtrussische Aggression. Es ist Putins Krieg. Zahllose Tote, sinnlose Gefechte. Weil der Führer Russlands die historische Eingebung hatte, die Schmach der sowjetischen Implosion auszumerzen. Mit aller ihm zur Verfügung stehenden Gewalt.
Das trifft uns nicht nur deshalb ins Herz, weil der Krieg zurück am Kontinent ist. Das betrifft Europa, weil Putin hier schon in der Vergangenheit verdeckte Operationen durchführen konnte und Gegner mit Giftanschlägen ermorden ließ. Warum soll in der Ukraine Schluss sein? Putins destabilisierender Infokrieg läuft auch längst bei uns über den Russischen Staatsfunk und sein “Russia Today”. (Übrigens: Nachdem “RT Deutsch” in Berlin keine Lizenz bekam, wird aktuell in Österreich nach Personal gesucht.) Österreich, im Eigenbild gern neutraler Brückenbauer und Tor zum Osten: stets verlässlich ausgenutzt. Das ging auch den vermeintlichen Vermittlern Macron und Scholz jüngst nicht anders.
Dieser Angriff erschüttert uns in unseren Grundfesten. Wir bekommen gnadenlos vor Augen geführt, dass überhaupt nichts an unserem Alltag selbstverständlich ist, auch nicht in Europa.
Wer nun kritisiert, dass die EU nichts tut, muss eingestehen: Die EU darf überhaupt nichts tun. Die Außen- und Sicherheitspolitik liegt in 27 Facetten in 27 Amtsstuben verstreut. Manche sind in der Nato, andere nicht. Einige neutral – und vielen ist es im Alltag schlichtweg egal. Hauptsache stabil im Westen, hauptsache Freiheit – eh klar.
Europa, das demokratische Friedensprojekt, wird unterwandert, von Russland, auch China. Der Krieg entfacht eine Diskussion darüber, wie abgestimmt die Sicherheitsangelegenheiten Europas künftig sein müssen. Das Schwierigste: Die einzelnen Staaten und deren Völker müssen auch lernen, für das große Ganze loszulassen. Ansonsten bleibt die EU maßgeblich eine träge Wirtschafts- und Währungsunion.
Der Traum, dass Demokratie allein beflügelt durch wirtschaftlichen Wohlstand und Diplomatie die Welt erobern würde, erlebt eine herbe Zäsur. Zu viele Bösewichte da draußen.
Gerold Riedmann ist Chefredakteur der Vorarlberger Nachrichten.
Du hast einen Tipp für die VN Redaktion? Schicke uns jetzt Hinweise und Bilder an redaktion@vn.at.
Kommentar