Wir müssen reden
Der Krieg in der Ukraine, ganz nah. Nicht allein aufgrund der geografischen Nähe. Nicht aufgrund der aus ihrer Heimat Vertriebenen, für die Europa, auch Vorarlberg, so überwältigende Hilfsbereitschaft zeigt. Die Krise erreicht in Lichtgeschwindigkeit unseren Staatshaushalt, unsere Supermärkte, uns. Der erste Schock an der Tankstelle ist da nur ein laues Frühlingslüfterl.
Kurzfristig müssen die Effekte der sich überlagernden Krisen in Zaum gehalten werden. Die Pandemie wird in den kommenden Tagen und Wochen die Krankenhäuser wieder füllen. Die Klimakrise ist unverändert ungelöst. Da hat der Krieg gerade noch gefehlt.
„Wir werden loslassen müssen, nicht nur in der Außenpolitik – auch in manch liebgewonnener nostalgisch verklärter Tradition.“
Unfassbar: 1000-Kilo-Bomben auf Kinderkliniken, Streumunition auf Wohngebiete. Tod, Leid, Zerstörung – millionenfach. Weil Wladimir Putin nun jede Maske fallen ließ, hemmungsloser Diktator ist, die Ukraine heim ins Sowjetreich holen will.
Europa hat sich zu lange gehen lassen. Vor lauter Brexit-Lähmung und Richtungsstreit auf das Große und Ganze vergessen: Frieden auf diesem Kontinent und seine Absicherung. Wir spüren plötzlich, wie anders es ist, wenn Europa geeint ist und binnen Tagen, binnen Stunden abgestimmt und entschlossen gegen den Aggressor handelt. Wie kommen wir zu einem Europa, das außenpolitische Aufgaben mit Gewicht wahrnimmt? Wir werden loslassen müssen, nicht nur in der Außenpolitik – auch in manch liebgewonnener nostalgisch verklärter Tradition.
Damit ist die Neutralität gemeint. Unter der jeder Österreich ein bisschen etwas anderes versteht. Sie ist heute allemal gut fürs Gewissen (und für die Rüstungsausgaben ist sie’s auch). Österreich kann sich auf die Immerwährende Neutralität berufen und hat ebenso natürlich wie die USA, Kanada und alle europäischen Staaten, Großbritannien eingeschlossen, dieser Tage die ganz klare Position im freien Westen eingenommen. Ein unglaublich klares Bekenntnis zum transatlantischen Bündnis ist das. Denn es ist nicht Russland, das Europa Sicherheit gibt. Es waren oft genug auch nicht die europäischen Nationalstaaten selbst. Es ist ganz Europa, es ist die Verbindung zwischen Europa und Amerika, die Freiheit und Demokratie über alles stellt. Mit allen Systemfehlern, mit denen wir im Alltag konfrontiert werden.
Österreich kann sich auf das westeuropäische Sicherheitsgefüge verlassen, ohne viel dafür zu tun. Dass Kanzler Karl Nehammer die Neutralitätsdiskussion abwürgen will, noch ehe sie begonnen hat, sollte Aufruf genug sein, erst recht darüber zu reden. Der Bundespräsident könnte sich das für die nächste Amtszeit vornehmen. Apropos: Wann entscheidet sich eigentlich Alexander Van der Bellen dazu, bitte weiterzumachen?
Das Leid in der Ukraine ermahnt uns, dass es unglaublich fahrlässig war, Putin bis dahin gewähren zu lassen. Ihm auch nach der Krim-Annexion auf die Schulter zu klopfen, Witze zu reißen, Freundschaftsabkommen zu schließen, ihn auf Hochzeiten einzuladen, sein Honorarkonsul zu sein.
Wir müssen reden. Über unser Verhältnis zum Osten, zum Westen – und über Österreichs Platz in einem neuen Europa.
Gerold Riedmann ist Chefredakteur der Vorarlberger Nachrichten.
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