Kleiner Mann in leerem Zimmer
„Es brennt noch Licht“, sagte Frau Petrow, die Chefsekretärin, zu ihrer Untergeben Oxana. „Wir warten, bis wir ihn weggehen sehen.“
„Oder hören“, sagte Oxana. „Sein Sohlengeräusch kenne ich.“
„Also, dann pass auf, setz dich auf die Treppe, zieh deine Schuhe aus, und wenn du hörst, wie er sein Zimmer abschließt, fliehe in Socken!“
Beide Frauen warteten. Es rührte sich nichts im Zimmer des kleinen Mannes.
„Hat er heute schon mit Ihnen gesprochen?“, fragte schüchtern Oxana.
„Er hast zwei Mal gehustet. Also, Oxana, ich muss jetzt kurz weg, um Depeschen aufzugeben. Rühr dich nicht von der Stelle!“
„Zu Befehl, Frau Petrow.“
„Es roch schrecklich, wie sie fand, es roch nach Angst und Schrecken und böser Macht.“
Oxana saß über eine Stunde auf der Treppe, Schuhe und Strümpfe in ihrer Tasche. Zehen eiskalt, es war nämlich im eisigen März. Kaum hielt sie es mehr aus – sie hatte heute noch nichts gegessen, nichts getrunken. Sie schlich auf Zehenspitzen zur Tür des kleinen Mannes, und eben in diesem Augenblick flog die Tür auf, und der kleine Mann trat heraus. Schnellen Schritts ging er in Richtung Lift. Bald würden Sicherheitskräfte bei ihm sein und ihn begleiten. Oxana war an die Wand gedrückt, kaum traute sie sich zu atmen. Zwei Schritte vor, und der Blick ins leere Zimmer tat sich auf. Der kleine Mann hatte die Tür nämlich nicht wie sonst zugeknallt. Sie sah auf dem Tisch einen Wasserkrug stehen. Mit großer Angst tappte sie auf den Schreibtisch zu, nahm den Krug in die zittrigen Hände und trank. Was sie trank, war, wie ihr schien, mit Wodka vermischt, es tat ihr so gut, und sie trank und trank, bis der Krug leer war. Selbstvergessen stand sie einen Augenblick, und da hörte sie Schritte. Sollte sie aus dem Büro flüchten?
Es gab schwere billardgrüne Vorhänge, die über den Boden reichten. Sie schlüpfte dahinter und verbarg sich in den Falten. Es roch schrecklich, wie sie fand, es roch nach Angst und Schrecken und böser Macht. Sie sah niemanden, hörte nur die Tür, zum Glück wurde nicht abgesperrt. Erlösung, aber für wie lange? So verharrte sie eine Zeitlang, sie wusste nicht wie lange, dann schlich sie sich aus dem Büro und verschwand in der Toilette. Sie hörte Geschrei, Gemurmel, schwere Stiefelschritte, Befehlsstimmen. Türen wurden aufgerissen, wieder zugeschmettert. Oxana zitterte am ganzen Leib. Der Wodka in dem Wasser war ihre Rettung. Er besänftigte sie und machte ihr Mut. Wenn die Gefahr vorbei wäre, könnte sie verschwinden. Aber wohin? Wir wissen es nicht.
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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