Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Das Gewitter

Vorarlberg / 05.07.2022 • 18:59 Uhr / 4 Minuten Lesezeit

Wenn Sie meiner Generation angehören, kennen Sie wahrscheinlich das Gedicht von Gustav Schwab: „Urahne, Großmutter, Mutter und Kind, in dumpfer Stube beisammen sind.“ Ich habe das Gedicht gern vor mich hingesagt und mich in die dumpfe Stube versetzt. Heute sitze ich mit meiner Tochter, meiner Enkelin und ihrem Kind auf der Wiese. Es ist im heißen Sommer. Also, ich wäre die Urahne, und wenn ich mich an ihre Gedichtzeile erinnere, wird mir ganz mulmig – „Morgen ist Feiertag, am liebsten morgen ich sterben mag, ich kann nicht singen und scherzen mehr …“

Gerade habe ich aber meinem Urenkel das Lied vom Rauchfangkehrer vorgesungen. Er hat gelacht. Dabei habe ich ihn geschaukelt, und er hat gejauchzt. So eine Freude! Er strampelt mit seine strammen Beinchen, kann sie nicht stillhalten. Nur wenn er schläft, ist er ruhig. Manchmal im Traum bewegt er sein Köpfchen mit den Flaumhaaren – was er gerade träumt? Ich nehme ihn auf, und er ist noch warm vom Schlaf, er reibt sich die Äuglein. Was für ein hübscher Kerl! Schon Augenbrauen hat er, Wimpern wie kleine Fächer, Grübchen in den Ellbogen. Seine Händchen sehen aus wie angeschraubt. Seine Zehen sind Kieselsteine, glatt und kühl. Ich füttere ihn, er sperrt sein Mäulchen auf, ein Vogelkind. Wenn er satt ist, schüttelt er den Kopf, greift in den Brei und will auf den Boden. Eine Minute daliegen, sich umdrehen, auf die Decke schauen, in den Himmel schauen …

Seine Mutter putzt ihm die Hände, den Mund, seine Großmutter will ihm ein frisches Leibchen anziehen. Ich sage: „Lasst ihn doch, er ist gerade so zufrieden.“

Was denkt der Spatz? Denkt er? Ich schaue nach links, er folgt meinem Blick. Ich schaue nach rechts, er folgt meinem Blick.

Noch fremdelt er nicht. Über jeden, der ihn freundlich ansieht, scheint er sich zu freuen. Personen mit bösem Blick mag er nicht.

Wieder liegt der Kleine in der Wiese, die Gräser kitzeln ihn, und er niest.

Meine Tochter, die Großmutter, sieht aus wie ein Mädchen in ihrem Sommerkleid. Sie zieht ihrem Enkel eine Sonnenkappe an. Nichts soll ihm geschehen, er soll immer selig sein. Die Mutter spritzt mit der Gießkanne über seine Zehen, das mag er nicht.

Ein Wind kommt auf, der Himmel verdunkelt sich.

„Gleich wird es regnen“, sagt die Großmutter und fängt an, die Sachen ins Haus zu räumen. Die Mutter hat ihren Liebling in Sicherheit gebracht. Was, wenn es blitzt, was wenn es donnert? Ihm soll nichts geschehen.

„Sie kauen Kiesel, sie liegen auf dem Bauch, sie beten alles an, was nicht umfällt.“ (Nietzsche)

„Morgen ist Feiertag, am liebsten morgen ich sterben mag, ich kann nicht singen und scherzen mehr . . . “

Monika Helfer

monika.helfer@vn.at

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.

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