Gefangen in der Apokalypse
Jens Spahn sagte 2020 einen Satz, der wohl länger bleiben wird als die allermeisten Sätze, die Politikerinnen und Politiker sonst in ihrem Alltagsgeschäft von sich geben. „Wir werden einander viel verzeihen müssen“, meinte der damalige deutsche Gesundheitsminister zu Beginn der Pandemie und abseits der Frage, ob ihm dieser große Satz in der Überforderung mehr passiert ist oder doch durchdacht war, muss man sagen: Selten hat man in den vergangenen Jahren eine derart treffende Beschreibung für den fragilen Zustand unserer Welt und unserer brüchigen Beziehungen zueinander gehört. Wobei wohl niemand – abseits der üblichen Amateur-Kassandras – 2020 davon ausgegangen ist, dass wir inmitten der Pandemie noch von einem Krieg mit weltweiten Folgen überfordert werden.
Und die Überforderung ruiniert jeden Rest von Gelassenheit, der uns noch geblieben ist. Viele machen sich nun wieder täglich mit ihren Ängsten gegenseitig noch ängstlicher, gerade auch auf den Social-Media-Plattformen: Unsere tägliche Apokalypse gib uns heute! Auch weniger Bibelfeste beschwören gerne die vier apokalyptischen Reiter aus der Offenbarung des Johannes, nur darüber, ob gerade noch der dritte oder schon der vierte Reiter durch unseren Alltag galoppiert, ist man sich nicht einig. „Das Internet ist zu erheblichen Teilen eine Affektmaschine“, stellt der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz in seinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ fest und außer Affekten gibt es derzeit auf Social Media leider wenig zu sehen. Zu der Angst mischt sich auch immer mehr verständliche Wut. Sie ist überall, in der Mitte der Gesellschaft.
Mehr Sensibilität
Inmitten des täglichen Austauschs von Wutausbrüchen und Panikattacken wird es immer schwieriger, konstruktiv zu bleiben. Die Realität ist auch ohne Emotionsstürme bedrückend: Schon heute haben laut einer aktuellen Studie der Statistik Austria 800.000 Menschen im Land Probleme, ihre laufenden Ausgaben zu zahlen, mehr als zwei Millionen waren im vergangenen Jahr von Einkommensverlusten betroffen.
Neben dem klaren Auftrag der europäischen und heimischen Politik, alle notwendigen Maßnahmen zu treffen, um die Gesellschaften durch die Gas- und Teuerungskrise zu bringen, können wir uns gegenseitig unterstützen, mit mehr Verständnis und Sensibilität. Sich über die anderen, diese armen, bemitleidenswerten Leute zu erheben, weil man ja selbst mit höherem Einkommen und Vermögen sicher zu sein glaubt, ist übrigens genauso wenig durchdacht wie der Rückzug ins Biedermeier: Mein Haus (mit Wärmepumpe und Holzofen!), meine Burg, mein Leben. Denn wenn das gesellschaftliche Gefüge auseinanderbrechen sollte, dann würde man das auch in der kleinen Biedermeier-Welt spüren.
„Die dauernde Überforderung ruiniert jeden Rest von Gelassenheit, der uns noch geblieben ist.“
Julia Ortner
julia.ortner@vn.at
Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und arbeitet für den ORF-Report.
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