Das große Rätsel
Ein kluger Mann suchte nach gescheiterten Beziehungen eine neue Frau. Er fand keine, so sehr er sich auch bemühte.
„Was ist das große Rätsel?“, fragte er seinen Freund, der lange schon mit derselben Frau verheiratet war. „Du musst es doch wissen.“
„Steig über die Schwelle“, sagte der Freund. Er war ein Dichter und wollte die richtigen Worte wählen.
„Du meinst, ich soll mit der Tür ins Haus fallen?“
„Gerade das nicht“, sagte der Freund. „Lass es geschehen.“
„Wenn aber nichts geschieht?“
„Dann warte.“
„Bevor ich sterbe, wird mich die verbrauchte Pflegerin erhören, aber dann ist es zu spät.“
„Die Frau hatte etwas an sich, das ihn immer wieder hinschauen ließ. Sie musste es merken.“
Da geschah es, dass der einsame Mann in einer Ordination auf eine Frau traf. Sie sahen einander an, er schaute gleich weg, sah sie wieder an, dachte sich, was für eine Krankheit hat sie, warum sitzt sie hier. Sie hatte eine nette Frisur, einen Seitenscheitel, und wenn sie sich drehte, und sie drehte sich auch, um nach einer Zeitung zu greifen, sah er ihre Narbe, die vom Haaransatz der Wange entlanglief. Keine frische Narbe. Die Frau hatte etwas an sich, das ihn immer wieder hinschauen ließ. Sie musste es merken.
Ihm fiel ein, dass er einmal ein Gespräch unfreiwillig mitangehört hatte, wo zwei Männer sich unterhielten. Der eine sagte zum anderen, er schwöre auf nicht besonders schöne Frauen, weil es nämlich die seien, die sich bemühen, die alles geben müssen, er soll sich das in jeder Lebenslage vorstellen.
So dachte der einsame Mann, wenn ich also diese Frau … sollte sie nach mir die Ordination verlassen, und ich unauffällig auf der Straße warte und wie zufällig zu ihr trete … Was könnte ich sagen? Zum Beispiel: Wieder so ein Tag, wo der Abend noch lange auf sich warten lässt … Nein. Ein gewöhnlicher Satz. Zum Beispiel: Jetzt haben wir es beide hinter uns, ich hoffe, bei Ihnen ist alles gut gelaufen? Die Frau würde antworten: Nur eine Kontrolle, das Ergebnis wird mir geschickt. Und er: Wie bei mir, also beide warten wir auf ein gutes Ergebnis. Dann würde es zu regnen beginnen, heftig, und beide hätten sie keinen Schirm, und er würde ihr seine Jacke um die Schultern legen und zwar so, als ob es das Normalste der Welt wäre, ohne zu fragen … und sie würden in ein Kaffeehaus eintreten … Sie würde den Regen aus der Jacke schütteln, und er würde sagen: Was halten sie von einem heißen Kakao, und würde ihre Antwort nicht abwarten. Der Kakao wäre köstlich, sie hätte sich ein wenig die Zunge verbrannt. Er könnte sie fragen, woher die Narbe auf ihrer Wange stammt, und sie könnte erzählen, sie sei von der Schaukel gefallen, als sie noch kein Schulkind gewesen war. Und so würden sich die Gespräche der beiden verschränken, als wären sie längst schon Freunde.
Der einsame Mann wurde aufgerufen. Er trat aus dem Haus und die Sonne schien.
Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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