Thomas Matt

Kommentar

Thomas Matt

Durch den Wind

Vorarlberg / 13.07.2022 • 14:00 Uhr / 2 Minuten Lesezeit

Die Frau schrie. Mit geballten Fäusten hieb sie auf ihren imaginären Gesprächspartner ein. Kopfhörer oder Handy suchte man an ihr vergebens. Sie telefonierte nicht. Schreiend lief sie unter den geöffneten Bahnschranken hindurch Richtung See. Die Menschen wichen ihr aus. Radfahrer bremsten abrupt, denn die ignorierte sie. Viel zu sehr war sie in ihrem inneren Konflikt gefangen. Im Vorübergehen senkten Passanten rasch die Augen zu Boden, denn ihr Blick ging wirr, und niemand hatte Lust, ins Fadenkreuz zu geraten.

Sie war nicht dürftig gekleidet, salopp vielleicht, aber keineswegs abgerissen. Sie hätte gut und gerne durch die Fußgängerzone, an den Schaufenstern vorbei flanieren können. Mit ihren kurzgeschnittenen Haaren, der athletischen Figur und sommerlicher Bräune hätte sie sich prächtig eingefügt in den Touristenstrom. Vielleicht sogar ein angenehmer Kontrapunkt unter all den Körpern, die von üppiger Ernährung und wenig Bewegung zeugten.

Aber in ihrer Welt waren irgendwann entscheidende Dinge verrückt worden. Jetzt lief sie schreiend durch die Seeanlagen und erntete ängstliche Blicke aus sicherer Distanz. Sowas geschieht. Menschen ticken aus. Aber inmitten einer Gesellschaft, die sich so sehr das alte Normal zurückwünscht und unentwegt versucht, sich das neue Normal zurechtzubiegen, wirken sie wie ein Fanal.

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