Warum Beten verändert

Vorarlberg / 22.07.2022 • 17:00 Uhr / 5 Minuten Lesezeit
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Bettelnde Menschen erregen die Gemüter! Das Bild von mittellosen, armen Menschen in zerschlissenen Kleidern und verwitterten Gesichtern, die am Straßenrand betteln, verstört. Es fordert heraus und überfordert. Manche verspüren Scham und Unbehagen beim Vorbeigehen. Andere wiederum sind irritiert und verärgert. Dass in Not geratene Menschen sich mitunter schämen, ihre Armut in der Öffentlichkeit zu zeigen, verstärkt das Unbehagen. Und die Zahl derer, die das Betteln ganz verbieten wollen, ist groß.

Das tägliche Brot ist mehr als Brot

Jesu Ansatz ist ein gänzlich anderer. „Bittet und es wird euch gegeben; sucht und ihr werdet finden; klopft an und es wird euch geöffnet. Denn wer bittet, der empfängt; wer sucht, der findet; und wer anklopft, dem wird geöffnet.“ (LK 11,9-10) Eingebettet sind diese Worte in eine wunderbare Komposition der Anleitung zum Gebet und der Aufforderung des Bittens. An dessen Anfang steht jenes Gebet, das Christen aller Konfessionen beten: das Vater Unser. Es ist das bekannteste aller Gebete, das uns vertrauteste. Auch darin findet sich die Bitte, die unser existenzielles Wohlergehen sichern möchte. „Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen!“ (Lk 11,3) – so lautet es beim Evangelisten Lukas. Gib uns so viel wie notwendig von dem, was wir zum Leben benötigen. Das ist mehr als Brot! Das ist ein Dach über dem Kopf, eine Familie und Gemeinschaft, in der wir wachsen und uns entfalten können. Arbeit, Visionen und Träume, Vertrauen und Sicherheit, Liebe und noch vieles mehr.

Die Bedeutung des gemeinsamen Gebets

Jesu Ermutigung, uns bittend an Gott zu wenden, verbindet uns Christen rund um den Erdball. Miteinander und in Gemeinschaft für das gleiche Anliegen zu beten, entwickelt eine enorme Kraft. Es gibt viele Menschen, die Beten für eine Privatsache halten. „Das mache ich selber mit Gott aus. Zum Beten brauche ich niemanden“ – höre ich Menschen sagen. Das persönliche Gebet hat seinen Platz im Reigen der Gebetsformen. Doch das gemeinsame Gebet hat eine noch größere Dimension. Es verbindet und bestärkt Menschen unterschiedlicher Herkunft und sozialer Schichten. Es vereint und fördert die Solidarität mit dem Fremden, dem anderen, dem Armen. Das stellvertretende Bitten um Frieden, um Gerechtigkeit, um Linderung der Armut, die Bitte um das tägliche Brot bleibt kein leeres Geschwätz. Wer gemeinsam mit anderen sich im Gebet Gott zuwendet, wird sensibel für das Leid und die Not des anderen. Das wiederum kann die persönliche Haltung und Handlungsweisen verändern.

Gleich im Anschluss an die Bitte um das tägliche Brot setzt die Bitte um Vergebung an. Auch diese Bitte stellt uns wiederum in Beziehung zu unserem Nächsten. War es zuvor die leibliche Dimension, die im Blick war, wird mit der Vergebungsbitte die zwischenmenschliche Ebene angesprochen und zeigt zugleich auf, wie verwoben wir Menschen miteinander sind. Es ist nicht egal, wie wir unser Leben gestalten. Was wir tun hat Auswirkungen auf andere. In unserer globalisierten Welt wird das mehr und mehr deutlich.

Beten verändert den Betenden

Das Vater Unser ist für mich ein äußerst politisches Gebet. Für den bekannten Schriftsteller Søren Kierkegaard verändert das Gebet nicht Gott, sondern es verändert den Betenden. Im Beten geschieht Transformation, Veränderung. Wer sich bittend an Gott wendet, nimmt einen neuen Standpunkt ein und verändert mitunter den eigenen Blick auf jene, die mittellos und mit zerrissenen Kleidern am Straßenrand sitzen und um ihr tägliches Brot bitten. Vielleicht begleitet uns dieser Gedanke das nächste Mal, wenn wir das Vater Unser beten.

Dr. Juliana L. Troy, Krankenhausseelsorgerin am LKH Rankweil.
Dr. Juliana L. Troy, Krankenhausseelsorgerin am LKH Rankweil.

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