Aus einem Heimkind wurde eine starke Frau

Vorarlberg / 25.07.2022 • 19:07 Uhr / 6 Minuten Lesezeit
Die Mutter gab nicht nur die Zwillingsmädchen (im Bild) weg, sondern auch die anderen fünf Kinder.
Die Mutter gab nicht nur die Zwillingsmädchen (im Bild) weg, sondern auch die anderen fünf Kinder.

Helga wuchs ohne Liebe auf. Sie erlebte in ihrer Kindheit Schlimmes.

Schwarzach Ihre Mutter brachte sieben Kinder zur Welt. Jedes war von einem anderen Mann. „Sie hat uns alle hergegeben“, berichtet Helga (Name geändert). Helga und ihre Zwillingsschwester Erna (Name geändert) wuchsen bei Pflegeeltern und in Kinderheimen auf.

Die 67-Jährige kann sich noch an die Zeit erinnern, als sie im Alter zwischen vier und sechs Jahren mit Erna auf einer Alpe bei Pflegeeltern war. Die Zwillingsmädchen hatten es nicht gut bei dem kinderlosen Bauernehepaar. Helga erinnert sich, dass sie oft im Stall war und die Kühe melken musste. Die Bauern gingen nicht zimperlich mit den Kindern um. „Sie haben uns in der Alphütte eingesperrt und uns Angst vor dem Teufel eingejagt. Ich fürchtete mich höllisch vor dem bösen Wesen mit den Hörnern und dem Klumpfuß.“

Niveacreme aus Hunger gegessen

Das verängstigte Mädchen lutschte am Daumen, was die Landwirtin dazu veranlasste, dem Kind Hühnerkot auf die Finger zu schmieren. „Ein paar Mal hat sie mir auch mit dem Feuerzeug die Finger verbrannt.“ Die Bauersleute schreckten nicht vor roher Gewalt zurück. „Erna haben sie so fest geschlagen, dass ihre Lippen blutig waren.“ Die Gewalt war das eine, der Hunger das andere. Helga erinnert sich, „dass Erna und ich vor lauter Hunger Niveacreme gegessen haben. Auch Zucker haben wir einmal aus einer Schublade stibitzt, weil wir so hungrig waren.“

Als die Mädchen schulreif waren, brachte man sie in einem Kinderheim unter. Helga tat sich in der Schule schwer. „Ich konnte nicht lesen und stotterte brutal. Zwei Mal bin ich sitzengeblieben.“ Die Erzieherin hatte kein Verständnis für das Kind. „Weil ich nichts konnte, hat sie mir mit einem Stock auf die Finger geschlagen.“

Einer anderen Frau konnte Helga mehr abgewinnen. „Sie hat mir Werte fürs Leben mitgegeben wie Sauberkeit, Anstand und Verantwortung.“ Abgesehen davon vermittelte sie dem stotternden Kind, dass es anstrengend sei und nichts könne. „Zum Lernen schickte sie mich immer unter die Stiege.“

Helga wurde ohne Liebe groß. „Das Heim bot mir ein stabiles Umfeld, aber Zuneigung habe ich keine bekommen. Nur der Schullleiter und der Lehrer mochten mich, weil ich die schönste Schrift in der Klasse hatte.“ Trost fand das Mädchen, das im Haushalt immer fest mitarbeiten musste, in der Natur. „Ich bin oft in den Wald gegangen, weil ich dort glücklich war. Ich habe mit Steinen und Tannenzapfen gespielt, Vogelhäuschen und Blumenkränze gebastelt.“

Das Kind hatte sich immer eine Puppe gewünscht. Mit acht Jahren bekam es eine von einem Mann in ihrem Umfeld geschenkt. „Er hat mich sexuell missbraucht“, sagt Helga, die sich einmal mehr Tränen aus den Augen wischt. Als sie von ihrer Zwillingsschwester zu erzählen beginnt, verdunkeln sich ihre Augen abermals. „Erna wurde mit 12 Jahren in ein strenges Tiroler Erziehungsheim gesteckt, weil man vermutete, dass sie mit einem Buben etwas gehabt hat. Dem war aber gar nicht so. Zum Abschied schenkte sie mir ihre Melodica.“ Die 67-Jährige bedauert zutiefst, dass es Erna heute nicht gut geht. Gleichzeitig ist Helga froh darüber, dass sie ihr Leben immer gut bewältigen konnte. „Ich bin stolz auf mich, dass aus mir was wurde. Und das, obwohl man mir die Kindheit nahm und ich abgelehnt worden bin.“

Zur Altenpflegerin berufen

Helga hatte schon als Kind einen Berufswunsch. „Ich wollte in die Mission gehen und armen und kranken Menschen helfen.“ Deshalb hätte sie sich gerne zur Krankenschwester ausbilden lassen. Aber dieser Traum zerplatzte, „weil ich zu viele Fünfer im Zeugnis hatte“. Diese Tür war zu, dafür waren andere offen. Zunächst arbeitete Helga als Stockmädchen im Spital. Später kümmerte sie sich um Menschen mit Behinderung. Ihre Berufung fand sie aber als Altenpflegerin. 40 Jahre lang betreute sie mit Freude alte Menschen. „Ich habe alle Schulungen und Kurse nachgeholt.“ Um sich und ihren zwei Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, arbeitete die alleinerziehende Mutter außerdem noch als Raumpflegerin.Alles, was sie tat, tat sie mit Liebe und mit Herzblut. „Mir gab der liebe Gott ein gütiges und liebendes Herz mit.“ Obwohl sie selbst nie Liebe erfuhr, verschenkte sie als Mutter viel Liebe und als Altenpflegerin viel Zuneigung. Ihr Herz ist immer weit offen gestanden und heute voller Dankbarkeit. „Ich danke dem lieben Gott und der Mutter Erde jeden Tag für mein Leben.“

„Schlechte Kindheit war wichtig“

Selbst den schlimmen Erlebnissen in ihrem Leben kann sie mittlerweile Positives abgewinnen. „Wir lernen viel in schwierigen Situationen, was positiv ist.“ Deshalb steht sie auch ihrer Kindheit heute versöhnlich gegenüber. „Vielleicht war es wichtig, dass ich eine schlimme Kindheit hatte. Sonst wäre ich heute nicht so eine starke Frau“, sagt sie und jetzt leuchten ihre Augen von innen heraus. VN-kum

Heute steht Helga ihrer Kindheit versöhnlich gegenüber. kuster
Heute steht Helga ihrer Kindheit versöhnlich gegenüber. kuster

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