Die Chance
Pandemie, Krieg, Inflation, Klimacrash – hat‘s uns doch noch erwischt, ich meine uns, die Nachkriegsgeneration, die mehr als 70 satte Jahre erleben durfte. Frau Ammann hat schon oft Kerzen angezündet, um für dieses Glück zu danken, wem auch immer. Aber das Leben ist halt keine gmahte Wiesen. Jetzt geht’s ans Eingemachte, sagt sie nicht nur Europa, die gesamte Zivilisation der Menschen ist gefordert, aber man sollte meinen, wir sind reif und gefestigt genug, um auch das wegzustecken. Ich weiß der Spruch von der Chance, die in der Krise liegt, kann nerven, aber irgendwie passt er halt doch. Die Auswirkungen des Krieges werden uns nämlich zwingen, endlich auch Einschränkungen, Verzicht und runter vom Gas(pedal) als plausible Optionen zu begreifen, um das Schlimmste für unsere Kinder und Kindeskinder zu verhindern. Die sollten es uns wert sein.
Im Dunkeln
Wen stört‘s, wenn öffentliche Gebäude und Geschäftsstraßen nächtens nicht mehr so üppig beleuchtet sind und die Schattenburg mal im Dunkeln schläft? Ich glaube, gewisse Einsparungen werden uns leichter fallen als befürchtet. Vieles mag auch wehtun, „Autofahren wird nicht mehr uneingeschränkt möglich sein“ und das „Wegwerfen von Dingen wird viel Geld kosten“, sagen Experten.
Und doch dürfen wir uns nicht von Kriminellen im Kreml erpressen lassen und wir sollten nie müde werden, dem freien demokratischen Gesellschaftsmodell (trotz aller Mängel) das Wort zu reden. Das Gegenteil wäre nämlich ein lebenslanger Maulkorb und das Schwert einer Führerklicke überm Kopf. Da zieh ich gerne einen Zusatzpullover an, im Winter, sagt Frau Ammann, bevor wir diese Lümmel obsiegen lassen. Noch sterben die Ukrainer, auch für unsere Sache. Das sollten wir nie vergessen.
Störenfriede
Wir müssen jetzt Farbe bekennen. Wir müssen die Störenfriede von rechts- wie von linksaußen daran hindern, unsere Grundrechte und die Institutionen unserer Rechtstaatlichkeit zu unterminieren. Nicht umsonst gilt unsere Verfassung auch als Mahnung und Lehre aus unserer eigenen katastrophalen Geschichte – fast 100 Millionen Tote nach zwei Weltkriegen, beide von Österreichern begonnen.
Demokratie ist eine empfindliche Pflanze, die immerwährender Pflege bedarf.
Frei denkende Menschen in einem offenen System werden stets zu klügeren Lösungen kommen als der Machtklüngel eines diktatorischen Parteiapparats, auch das lehrt uns die Geschichte. Rede-, Presse-, Demonstrations- und sonstige Freiheiten werden von Autokraten wie Karzinome am „Volkskörper“ bekämpft, wer also in Zukunft Rechts- oder Linksaußen wählt, öffnet dem bleihaltigen Wind aus dem Osten alle Türen. Zwei Dinge sind es, die unseren Kindern wichtig sein werden, und wir sollten beide beschützen, bis aufs Blut – Demokratie und Klima.
„Da zieh ich gerne einen Zusatzpullover an, im Winter, sagt Frau Ammann, bevor wir diese Lümmel obsiegen lassen.“
Reinhold Bilgeri
reinhold.bilgeri@vn.at
Reinhold Bilgeri ist Musiker, Schriftsteller und Filmemacher, er lebt als freischaffender Künstler in Lochau.
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