Mein Gott, wir haben uns an dich gewöhnt!

Das ist seit meinen Ferientagen letzte Woche das wichtigste Gebet geworden. Begegnet bin ich ihm bei der Lektüre des Buches «Reboot. Jetzt mehr Kirche wagen» des Deutsch-Schweizer Gemeindeleiters Christian Kelter. Mein Gott, wir haben uns an dich gewöhnt! Dieser ungewohnte Schrei zu Gott hängt an einem Wegkreuz.
Was dem Glauben im Wege steht
Mein Gott, wir haben uns an dich gewöhnt! Das ist das Schlimmste, was im Glaubensleben passieren kann. Wir hören Gottes Wort und sagen am Schluss selbstverständlich «Dank sei Gott!» oder «Lob sei dir. Christus!». Dabei haben wir gar nicht hingehört. Wir empfangen das Sakrament der Eucharistie und erschrecken nicht vor Ergriffenheit, dass Gott selbst sich uns in einem kleinen Stück Brot anvertraut. Wir ‘verrichten’ unsere Gebete und haben es dann erledigt, und sind mit diesem uns immer wieder überraschenden Gott gar nicht in Beziehung getreten.
Ein Gebet, das bewegt
Mein Gott, wir haben uns an dich gewöhnt! Dieses kurze Gebet bewegt mich. Ich schreie es zum Himmel, wenn ich merke, dass ich beim täglichen Gebet nicht in die Tiefe gehe. Dann wird mein Gebet plötzlich zum spannenden Dialog mit dem größten Geheimnis unseres Lebens. Wenn es bei der Eucharistiefeier einfach losgeht wie immer und ich gar nicht dabei bin, sage ich aus tiefstem Herzen: Mein Gott, wir haben uns an dich gewöhnt! Und dann passiert etwas mit mir. Und wie dankbar bin ich, dass ich in St. Gerold immer wieder Eucharistie feiern darf zusammen mit Menschen, die sich nicht an Gott gewöhnt haben.
Uns herausfordern lassen
Die Gewöhnung an Gott ist Gift. Das erlebe ich leider auch in Gottesdiensten, die zum Davonlaufen sind. Alles läuft wie immer, aber es lebt nicht. Schlimm ist es für uns Insider, wenn wir das nicht mehr merken. Nicht wenige Menschen, die die Kirche verlassen haben, sind deswegen gegangen. Begegnungen mit ihnen lassen mich draußen oft mehr erfahren, dass Gott überrascht. Künstlerinnen und Künstler auch in unserer Zeit haben den Mut, ihre Erfahrungen mit dem tiefsten Geheimnis unseres Lebens in Wort, Bild, Skulptur oder Musik zum Ausdruck zu bringen. In der von mir herausgegebenen Zeitschrift „Gemeinsam glauben“ war in einem modernen Gemälde von Jaroslaw Drazil Jesus in Unterhose abgebildet. Eine nur mit dem Vornamen unterschriebene Zuschrift äußerte dazu ihre große Verärgerung. In einem Punkt muss ich der Person recht geben: Vor 2000 Jahren gab es noch keine Unterhosen. Aber das Kunstwerk will nicht etwas darstellen, wie es vor vielen Jahrhunderten war, sondern wie es jetzt ist. Heute ist Jesus bei uns. Ob die Frau zufrieden ist, wenn wir Jesus nächstes Mal ohne Unterhose abbilden?
Aufruf an Künstlerinnen und Künstler
Ich freue mich, wenn auch unsere Wegkreuze bald einmal den Weg aus dem 19. Jahrhundert ins 21. Jahrhundert finden. Dann werden sie uns nicht mehr so sehr zum Hockenbleiben einladen, sondern zum mutigen Weitergehen. Denn gesucht sind heute nicht Besserwissende, die mit vollem Einsatz dafür sorgen, dass alles so bleibt, wie es immer war. Gesucht sind Gott-Suchende, die miteinander auf dem Weg sind und sich überraschen lassen. Das ist es auch, was Papst Franziskus mit Synodalität meint.