Julia Ortner

Kommentar

Julia Ortner

Tanzen ist verdächtig

Vorarlberg / 22.08.2022 • 22:35 Uhr / 4 Minuten Lesezeit

Die finnische Regierungschefin Sanna Marin tanzt gerne, feiert mit Freunden und ja, wahrscheinlich trinkt sie Alkohol dabei. All das wissen wir, seitdem vergangene Woche ein privates Video öffentlich wurde, das seitdem über Social Media in die Welt hinaus geht. Darf man sich als Premierministerin so benehmen, hat die Frau gar Kokain konsumiert, um so unverschämt gut gelaunt zu sein? Jetzt gibt es tatsächlich mehr Diskussion rund um derartige Fragen als um die nicht ganz uninteressante Frage, wer denn das Video flächendeckend verbreitet und zur Affäre stilisiert hat. Marin hat nun sogar einen Drogentest abgeben, um den Gerüchten entgegenzutreten.

Politikerinnen und Politiker sind Menschen wie alle anderen, auch wenn man das manchmal ausblenden mag. Sie sind nur mit mehr Macht, Sozialprestige und Geld ausgestattet als große Teile ihres Volks. Deswegen schaut man bei ihnen logischerweise genauer hin – und arbeitet sich leider an irrelevanten Nebenschauplätzen ab. Und natürlich, auch Großbritanniens Noch-Premier Boris Johnson darf auf Gartenpartys tanzen, nur nicht im Lockdown, wenn die Corona-Regeln in Großbritannien das untersagen.

Keine Geschmacksfragen

Solange sich Politikerinnen und Politiker an die Gesetze halten und sich anderen gegenüber anständig verhalten, sollten wir primär über die Politik diskutieren, für die sie stehen: Ob sie das Land und die Gesellschaft voranbringt, ob sie konstruktiv ist, ob sie den Rechtsstaat hochhält. Da gibt es in der Regel genug zu besprechen und es bedarf keiner Erörterung von Geschmacksfragen.

Also: Politikerinnen und Politiker dürfen teure Uhren tragen und kostspieligen Hobbys frönen, was sie von ihrem Gehalt kaufen, geht die Bevölkerung nichts an; sie dürfen große Dienstautos fahren, die Gefährte sind ja für viele auch Büro und Arbeitsgerät; sie dürfen Business­class fliegen (wenn eine Flugreise notwendig ist, weil andere Reiseformen terminlich nicht möglich sind), ausgeruht sind mir Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger auch lieber als übernächtig; sie können urlauben, wo sie mögen, es muss kein österreichischer See oder ein kroatischer Strand sein, um eine Bescheidenheit zu demonstrieren, die ohnehin bei manchen nicht authentisch wirkt.

Und im Fall Marin muss man ergänzen: Politikerinnen und Politiker dürfen privat leben, wie sie wollen. Wen sie lieben, was sie treiben, wie sie feiern, das geht uns nichts an, außer sie machen eine Politik, die dem, was sie privat tun, widerspricht. Oder brechen Gesetze. Man kann nicht erwarten, dass sie nach ihrem Arbeitstag auf einer Pritsche im Amtssitz nächtigen – als wären sie keine Menschen wie alle anderen auch.

„Politikerinnen und Politiker sind Menschen wie alle anderen, auch wenn man das manchmal ausblenden mag.“

Julia Ortner

julia.ortner@vn.at

Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und arbeitet für den ORF-Report.