Wer hat Angst vor Long Covid?
Die Menschen können dauerhaft müde, erschöpft, kaum belastbar, kurzatmig sein oder Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, Schlafstörungen, Muskelschmerzen haben oder unter depressiver Stimmung, Angstsymptomen leiden – und damit ist die Liste der möglichen Erscheinungsformen von Long Covid noch lange nicht vollständig. Eine Runde spazieren gehen, mit dem Kind spielen oder am Computer arbeiten, das Leben funktioniert für die Betroffenen nicht mehr. Ihre Krankheit vergisst man in der Debatte rund um Corona-Maßnahmen und Infektionszahlen meist. Es ist eine stille Pandemie. Denn diese Menschen laufen in der Statistik unter „genesen“.
Angesichts von Long Covid sind wir alle vulnerabel: Ob jung oder alt, sportlich oder bequem. Bisher ging man davon aus, dass die Erkrankung nach zehn Prozent der Covid-19-Infektionen auftritt, nach einer neuen, groß angelegten Studie sprechen Long-Covid-Experten wie der Wiener Neurologe Michael Stingl von fünf Prozent der Infizierten. Dass diese Menschen allerdings monate- oder sogar jahrelang mit teilweise massiven chronischen Beschwerden ringen und möglicherweise nicht mehr arbeitsfähig sind, dürfe uns nicht egal sein, sagt Stingl kürzlich in einem Interview mit der „Presse“. Zu krank für das Arbeitsleben, zu jung für die Pension: Nicht nur ein menschliches Drama, sondern auch ein großes volkswirtschaftliches Problem.Wer hat Angst vor Long-Covid? Laut Stingl, bei dem sich täglich 20 bis 40 Menschen melden, die eine Behandlung benötigen, die er aber nicht aufnehmen kann, kümmert sich die Gesellschaft hierzulande noch zu wenig um die Krankheit. „Das Bewusstsein für die weitreichenden Auswirkungen dieser Erkrankung fehlt, sie wird zu selten thematisiert. Üblicherweise kommt Long Covid nur dann zur Sprache, wenn darauf hingewiesen wird, dass die Impfung zu einer Verringerung des Risikos dafür führt“, sagt der Arzt.
Er sieht neben mangelnden Fortbildungsmöglichkeiten für medizinisches Personal viel zu wenige Therapieangebote und Therapiestudien, um den Betroffenen rasch zu helfen und herauszufinden, welche Behandlungen am effektivsten sind. Chronisch krank ohne Aussicht auf zeitnahe Heilung zu sein – das bleibt vielen Betroffenen.
In anderen Ländern ist das Problembewusstsein in Sachen Long Covid jedenfalls größer und man spricht mehr darüber. In den nächsten Jahren wird man neue Ansätze für Therapien und Medikamente finden, weil nun eben Milliarden in die internationale Forschung investiert werden. Long Covid ist kein Schicksal, dem man sich ergeben muss, es gibt Hoffnung. Abwarten kann allerdings nicht die Antwort sein, wenn kranke Menschen Therapieplätze brauchen. Jetzt, nicht in fünf Jahren.
„Angesichts von Long Covid sind wir alle vulnerabel: Ob jung oder alt, sportlich oder bequem.“
Julia Ortner
julia.ortner@vn.at
Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und arbeitet für den ORF-Report.
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