Gibt es noch ein „Wir“?
„Wir spüren die Teuerungen und die Inflation, wenn wir einkaufen gehen.“ Solche Sätze hört man jetzt öfter, von Moderatoren, Journalistinnen oder anderen Menschen im politmedialen Betrieb, wenn sie über die Folgen des Ukraine-Kriegs sprechen. Man will so wohl Zusammenhalt demonstrieren und Verständnis zeigen, mit anderen in Kontakt treten. Das ist gut gemeint, dennoch sollte man ehrlich bekennen: Es gibt derzeit in vielen Belangen kein „Wir“. Menschen mit kleinen Einkommen treffen die Preissteigerungen mit ganz anderer Wucht als jene mit mehr Geld, die vielleicht weniger sparen können, aber sich keine Sorgen um ihre Supermarkt-Rechnung machen. Und die Finanzprobleme ziehen sich schon bis in die Mittelschicht.
Der Zusammenhalt geht unter solchem Druck weiter verloren. Ein Phänomen der westlichen Wettbewerbsgesellschaften, das sich bereits in der Corona-Pandemie noch mehr verschärft hat. Auch wenn das oft beschworene Bild der gespaltenen Gesellschaft in Österreich – wegen der vergleichsweise starken Rolle des Staates – nicht so festzustellen ist wie etwa in den USA, gibt es seit der Pandemie Probleme, die man nicht leugnen kann: Noch mehr Vereinzelung, Individualisierung, Rücksichtslosigkeit. Jede, jeder für sich. Und es gibt jetzt mehr Missgunst gegenüber anderen, die die Gemeinschaft belastet. Neid prägt laut Anthropologie das Zusammenleben bestimmter Affenarten seit sieben Millionen Jahren und hat damit auch die menschliche Entwicklung beeinflusst. Das größere Auto, der tollere Job, die begabteren Kinder des oder der anderen – der missgünstige Blick ist Teil des Alltags. Man kann nur daran arbeiten, seine Neidgefühle besser im Griff zu haben. Und man sollte nicht ausblenden, dass Missgunst auch eine Funktion haben kann: das Aufzeigen von Ungerechtigkeiten. Ein Phänomen, das in der Wissenschaft bekannt ist. Der Psychologe Ulf Lukan hat mir das einmal so erklärt: „Manchmal wird berechtigte Kritik auch mit ,Neid‘ desavouiert, wenn etwa zwei die gleiche Arbeit machen, aber einer mehr dafür bekommt.“
Wenn die Gemeinschaft sich mehr zusammenschließen will, kann das dennoch bis zu einem gewissen Grad funktionieren, wie man auch in der Pandemie erkennen konnte. Gerade während der Lockdowns kam es teilweise zu einer Art Wiederentdeckung der Gemeinschaft. Krisen können Grundzüge des Menschen verstärken: Wer mitfühlend ist, begegnet dem anderen mit Empathie, wer vor allem mit sich selbst beschäftigt ist, bringt wenig Interesse für den Nächsten auf. Wer also wirklich wieder von einem „Wir“ sprechen will, sollte auf die gemeinsame Achse all jener setzen, die sich für die Welt außerhalb ihrer eigenen kleinen Welt interessieren.
„Es gibt derzeit kein ,Wir‘. Menschen mit kleinen Einkommen treffen die Preissteigerungen mit ganz anderer Wucht als jene mit mehr Geld.
Julia Ortner
julia.ortner@vn.at
Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und arbeitet für den ORF-Report.
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