Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Die Unfertigen

Vorarlberg / 31.01.2023 • 19:23 Uhr / 4 Minuten Lesezeit

Ich rede hier von Menschen, die keine Kinder mehr sind und noch keine Erwachsenen. Sind sie in einem Zwischenbereich?

Der Bub, von dem ich erzähle, Michael, nach dem Erzengel benannt, seine Mutter war gläubig, hatte ihm, als er noch ein Kindergartenkind war, vom Erzengel Michael erzählt, der den Teufel besiegt, und ihr Michael fragte: „Warum?“

Morgens ist er aufgewacht, unter den Achseln war ein Jucken, er griff und dachte, mein Gott, mir wachsen Haare. Er war verwirrt, seine Mutter sah ihn an und streichelte über seinen Klopf, deine lockigen Haare, sagte sie, wie schön, die Mädchen werden dich lieben.

In der Schule dann gab der Lehrer eine Schreibaufgabe, die hieß: „Dein Geheimnis.“

Was für eine Intimität! Dachte er wirklich, seine Schüler würden ihm Geschichten aus ihrem geheimen Leben erzählen?

Mein Geheimnis, redete es Michael im Kopf, ist Ayse, sie sitzt zwei Reihen vor mir, sie ist schon einen Kopf größer als ich, und ich kann mich hinter ihr verstecken. Sie ist bereits eine kleine Frau. Ihr weiches Kleid – einmal hatte er es zufällig berührt – hatte ein Muster von winzigen Rosenbäumchen. Ihre milchweiße Haut und die samtenen Wimpern! Würde sie kein Kopftuch tragen, könnte er auf ihren Scheitel schauen – er müsste nur auf den Stuhl steigen und so tun, als ob er etwas oben an der Decke nachschauen wolle. Würde man ihn fragen, warum er auf dem Stuhl steht, könnte er sagen: Da war eine Spinne, und ich weiß ja, dass die meisten Mädchen sich vor Spinnen fürchten.

Ayse muss ihre Haare verstecken, das will ihr Vater. Ayse ist nicht dünn wie die anderen Mädchen, sie trägt keine Jeans, keine bauchfreien Tops, sie schminkt sich nicht mit den anderen Mädchen in der Pause. Sie hat es nicht nötig. Sie ist weich wie Butter in der Sonne.

Er redete nicht mit ihr, wie kein Bub aus der Klasse mit ihr redete. Mädchen schon, aber auch nicht ausgiebig. Sie war ein Geheimnis.

Michael dachte, das werde ich garantiert nicht schreiben, aber einmal werde ich an ihrem Haus vorbei spazieren, das ganz unten liegt, wo das Schilf anfängt, und ich werde mein Zündholz anzischen und ein Feuer entfachen. Wahrscheinlich wird ihr Vater mit seinem Wasserschlauch aus dem Haus stürmen und das Malheur beseitigen. Mit dem Feuer würde ich ihr zeigen, wie sehr ich für sie brenne.

Das alles würde nicht geschehen, weil der Bub innerlich scheu war, nach außen hin gab er sich stark. Starksein war nicht etwa, was er beabsichtigte. Seine Stimme war sehr gut, mit dieser Stimme könnte er einiges anstellen. Nicht nur singen. Er wusste auch, dass Mädchen beeindruckt waren, wenn einer gut auf der Gitarre spielen konnte. Deshalb übte er auf seiner schlechten Weihnachtsgitarre stundenlang. Er würde im Sommer arbeiten, um sich denn von dem Verdienst eine Gitarre kaufen zu können, eine respektable. Könnte sein, dass Ayse daran Gefallen finden würde.

„Er wusste auch, dass Mädchen beeindruckt waren, wenn einer gut auf der Gitarre spielen konnte.“

Monika Helfer

monika.helfer@vn.at

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.

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