„Ich habe mich nur noch gehasst“

Vorarlberg / 07.02.2023 • 18:38 Uhr / 6 Minuten Lesezeit
Aus Scham lief Sabine jahrelang mit einer Mütze herum.
Aus Scham lief Sabine jahrelang mit einer Mütze herum.

Sabine Hagen (41) überwand ihre Zwangserkrankung.

Lauterach Sabine Hagen (41) kämpfte sich ins Leben. Ihre Mutter brachte sie im sechsten Schwangerschaftsmonat zur Welt. „Mein kleiner Körper war blau angelaufen. Man legte mich zur Seite, weil man dachte, dass ich tot sei.“ Aber dann wurde bemerkt, dass das Frühchen seine Zehen bewegt. Umgehend wurde das kleine Bündel Mensch in einen Brutkasten gebracht. Sabines Start ins Leben war holprig und vielleicht ein Vorzeichen für kommende Begebenheiten.

Wimpern und Augenbrauen weg

Mit drei Jahren begann sie, sich die Wimpern auszureißen und die Augenbrauen auszuzupfen. Ihre Eltern waren ratlos. Sie gingen mit ihrem Kind zu Ärzten, zu Therapeuten und zu Geistlichen. Aber keiner konnte helfen. „Es belastete mich, weil ich dachte, dass ich nicht normal bin.“ Wenn sich das Mädchen im Spiegel anschaute, schämte es sich. „Ich sah furchtbar aus ohne Wimpern und Augenbrauen.“ Aber es konnte nicht ablassen von seinem Tun. „Ich begann mich selbst zu hassen.“

Mit 12 Jahren fing Sabine an, sich die Haare am Kopf auszureißen. Das ging so weit, das sie kahle Stellen hatte. Mit einer Mütze schützte sich der Teenager vor den Blicken seiner Mitmenschen. In der Schule machten sich einige Buben auf ihre Kosten einen „Spaß“ und zogen ihr die Kappe weg. „Sie riefen: ,Glätzle, Leukämie.‘“ Heute fragt sich Sabine: „Wie habe ich das damals überstanden?“ Demütigend war für sie auch, dass sie gezwungen wurde, ihre schönen Locken abzuschneiden. „Mama sagte: ,Wenn du mit dem Haare-Ausreißen nicht aufhörst, müssen wir sie kurz schneiden lassen.‘“ Im Alter von 17 Jahren kam sie über eine Illustrierte drauf, dass sie an Trichotillomanie leidet, einer Zwangserkrankung. Es war befreiend für sie, zu erfahren, dass ihr Zwanghaftigkeit einen Namen hat. „Ich weinte. Eine jahrelange Last fiel von mir ab.“ Aber die Erleichterung hielt nur kurz an. Ihr Selbsthass wurde von Tag zu Tag größer, „weil ich es nicht schaffte, mit dem Haare-Ausreißen aufzuhören“. Mit den Perücken, die sie sich zugelegt hatte, fühlte sie sich nicht wohl. „Ich dachte immer, dass andere sehen, dass ich eine Perücke trage.“

Es kam so weit, dass sie nicht mehr leben wollte. „Ich schaffte es nicht mehr.“ Sie kam in spezielle ärztliche Behandlung. „Aber ich wollte immer noch sterben.“ Sabine verweigerte jegliche Nahrungsaufnahme und musste zwangsernährt werden. In der Klinik in Innsbruck regte sich erstmals wieder ihr Lebenswille. „Auf meiner Station waren viele Magersüchtige. Ihr Anblick schockierte mich.“ Der Schock war so groß, dass sie wieder zu essen begann. „Ich wollte wieder leben und kämpfen.“ Inzwischen hatte sie sich auch verliebt. Der Liebe wegen zog die Bregenzerin nach Oberösterreich, wo sie eine Ausbildung zur Altenbetreuerin machte. Mit 24 Jahren wurde sie Mutter einer Tochter. „Mary war ein Wunschkind.“ Aber sie musste sie allein großziehen. „Mein Freund hat mich verlassen, als Mary vier Monate alt war.“ Sabine kehrte nach Vorarlberg zurück und fand im Haus ihrer Großeltern eine Bleibe. „Die Oma war in dieser Zeit ein großer Halt für mich. Schon als Kind liebte sie mich bedingungslos. Sie schimpfte nie mit mir, wenn ich mir die Haare ausriss. Sie liebte mich trotzdem von Herzen.“ Nach der Trennung verschlimmerte sich Sabines Zwangserkrankung. „Ich rasierte mir jede Woche die Haare ab, damit die Perücke nicht rutscht. Meine Haare waren so kurz, dass ich sie nur noch mit der Pinzette ausreißen konnte.“

„Die Krankheit war ein Segen“

Als die Großmutter starb, verstärkten sich ihre Zwangshandlungen abermals. „Es wurde so schlimm, dass ich beschloss, eine Verhaltenstherapie zu machen.“ Ein Jahr lang ging sie jede Woche zu einer Psychologin. Sabines Ansporn war ihre Tochter, die zu ihr gesagt hatte: ,Mama, ich würde dir so gerne die Haare bürsten.‘“ Die Therapie zeitigte Erfolg. „Die Psychologin half mir so sehr, dass ich es schaffte, mir nicht mehr die Haare auszureißen.“ Im Zuge der Therapie entschloss sich Sabine zu einer Haarverlängerung. „Mit den Kunsthaaren ließ ich mir Zöpfchen machen. Ab da fühlte ich mich plötzlich als richtiger Mensch.“ Sabine litt viele Jahre unter der Krankheit. Inzwischen sieht sie sie aber als Segen. „Ich bin Gott dankbar dafür, dass er sie mir geschickt hat. Denn durch sie bin ich heute der Mensch, der ich bin – gut und einfühlsam.“ Die gläubige Frau vertraut Gott mittlerweile vollkommen. Sabine ist für alles, was von ihm kommt, dankbar, sei es gut oder schlecht. „Denn ich weiß, dass ich dadurch reifen und mich entwickeln kann.“ VN-KUM

Sabine hat von Natur aus wunderschönes, lockiges Haar.
Sabine hat von Natur aus wunderschönes, lockiges Haar.
Sabine an ihrem 6. Geburtstag. Da war sie schon drei Jahre krank. 
Sabine an ihrem 6. Geburtstag. Da war sie schon drei Jahre krank. 

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