Panik
Es war im Winter, zwar ohne Schnee, aber sehr kalt. An meiner Tür läutete es, ich öffnete. Eine Frau, die ich vom Sehen kenne, fragte, ob sie eintreten dürfe. Sie war barfuß, trug ein dünnes Kleid, oder war es ein Nachthemd. Sie zitterte. Ich wies ihr den Weg in die Küche. Dort ist mein wärmster Platz. Gerade hatte ich Tee aufgebrüht. Auf dem Boden lagen zerstreut Fetzen der Morgenzeitung, die Katze war am Zerfetzen. Ich stellte sie vor die Tür, schenkte der Frau Tee ein. Ich wusste ihren Namen nicht. Sie sagte ihn auch nicht. Sie zitterte am ganzen Leib. Ich holte von der Garderobe die wattierte Winterjacke meines Mannes und legte sie über ihre Schultern. Auch gab ich ihr meine Wolldecke und Hausschuhe mit Fellfutter. Sie zitterte immer noch, hatte Mühe, die Tasse zu halten, trank von dem heißen Tee und bat um Zucker.
Stockend erzählte sie, zwischendurch schluckte sie heftig, und ich dachte, gleich wird sie weinen.
„Was mir passiert ist, kaum zu glauben, aber wahr. Ich habe die Angewohnheit, vor dem Frühstück die Zeitung hereinzuholen. Noch im Nachtgewand und ohne Schuhe. Zur Abhärtung. Dabei lasse ich die Tür einen Spalt offen. Diesmal aber, was mir noch nie passiert ist, schlug die Tür zu. Ein Windstoß. Ich war allein zu Hause, mein Mann ist unterwegs. Kein Fenster, keine Tür, weder Balkon noch Keller waren offen. Ich hatte das Gefühl, meine Fußsohlen kleben am Eis. Ich rannte zum Nachbarhaus, klingelte. Niemand öffnete. Ich rannte zum anderen Nachbarhaus. Niemand öffnete. Ich wusste, da lag eine alte Frau im Sterben, also lief ich weiter. Ich betete und fluchte. Niemand begegnete mir. Es war erst kurz nach sieben, die Schüler würden erst in einer halben Stunde auf dem Weg sein. Kein Mensch auf der Straße. Jetzt bei ihnen, und Gottseidank, haben sie mir aufgemacht. Ich glaubte, sterben zu müssen, ich bin nicht mehr die Jüngste. Sehen sie mich nicht an, ich muss furchterregend aussehen.“
Sie wollte nicht, dass ich einen Arzt rufe, zu peinlich die Situation.
„Ich bestelle jetzt den Schlüsseldienst“, sagte ich, schenkte noch einmal Tee nach. In drei Stunden kommen die vom Schlüsseldienst, eher wäre es nicht möglich. Ich gab die Adresse durch.
„Darf ich dann noch so lange bei ihnen sein?“, fragte die Frau, und sie wirkte wie ein Kind, das noch glaubt, dass Katzen reden können. Die Katze schlich sich wieder in die Küche und hüpfte auf ihren Schoß. Sie redete mit ihr in der Katzensprache, sie gurrte.
„Ich werde Ihnen auf dem Sofa ein Bett machen“, sagte ich, „eine Wärmeflasche dazu.“
Sämtliche Decken, die wir haben, türmte ich über ihr auf, legte die Wärmflasche darunter. Kleinlich wie ich bin, dachte ich, dass ich die unterste Decke, die mit ihr in Berührung gekommen war, gleich waschen würde.
Als endlich der Schlüsseldienst kam, schlief sie, und ich hatte Mühe, sie wach zu kriegen.
„Ich glaubte, sterben zu müssen, ich bin nicht mehr die Jüngste.“
Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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