Sabine riss sich über Jahre die Haare aus

Vorarlberg / 07.02.2023 • 18:03 Uhr / 7 Minuten Lesezeit
Mit ihrem schönen Haar fühlt sich Sabine ganz.
Mit ihrem schönen Haar fühlt sich Sabine ganz.

Sabine Hagen (41) litt von Kindesbeinen an unter zwanghaftem Haareausreißen. Keiner wusste, warum sie das tat. Erst mit 17 erfuhr sie, dass sie an Trichotillomanie leidet. Im Erwachsenenalter überwand sie die Zwangserkrankung mit Hilfe einer Therapie.

Lauterach Sabine Hagen (41) kämpfte sich ins Leben. Ihre Mutter brachte sie im sechsten Schwangerschaftsmonat zur Welt. „Mein kleiner Körper war blau angelaufen. Man legte mich zur Seite, weil man dachte, dass ich tot sei.“ Aber dann wurde bemerkt, dass das Frühchen seine Zehen bewegt. Umgehend wurde das kleine Bündel Mensch in einen Brutkasten gebracht. Sabines Start ins Leben war holprig und vielleicht ein Vorzeichen für kommende Dinge.

Mit drei Jahren begann sie, sich die Wimpern auszureißen und die Augenbrauen auszuzupfen. „Keiner wusste, was mit mir los ist.“ Ihre Eltern waren ratlos. Sie gingen mit ihrem Kind zu Ärzten, zu Therapeuten und zu Geistlichen. Aber keiner konnte helfen. „Es belastete mich, weil ich dachte, dass ich nicht normal bin.“ Wenn sich das Mädchen im Spiegel anschaute, schämte es sich. „Ich sah furchtbar aus ohne Wimpern und Augenbrauen.“ Aber es konnte nicht ablassen von seinem Tun. „Ich begann mich selbst zu hassen.“

Sabine an ihrem sechsten Geburtstag. Da war sie schon drei Jahre krank.
Sabine an ihrem sechsten Geburtstag. Da war sie schon drei Jahre krank.

Mit zwölf Jahren fing Sabine an, sich die Haare am Kopf auszureißen. Das ging so weit, das sie kahle Stellen hatte. Mit einer Mütze schützte sich der Teenager vor den Blicken der Mitmenschen. „Ohne Mütze fühlte ich mich nackt.“ In der Schule machten sich einige Buben auf ihre Kosten einen „Spaß“ und zogen ihr im Schulhof die Kappe weg. „Sie riefen: ,Glätzle, Leukämie.‘“ Heute fragt sich Sabine: „Wie habe ich das damals überstanden?“ Demütigend war für sie auch, dass sie gezwungen wurde, ihre schönen Locken abzuschneiden. „Mama sagte: ,Wenn du mit dem Haare-Ausreißen nicht aufhörst, müssen wir sie kurz schneiden lassen.‘“ Nach dem Friseurbesuch nahm Sabine ein Bad und weinte bitterlich in der Badewanne.

Aus Scham lief Sabine jahrelang mit einer Mütze herum.
Aus Scham lief Sabine jahrelang mit einer Mütze herum.

Im Alter von 17 Jahren kam sie über eine Illustrierte drauf, dass sie an Trichotillomanie leidet, einer Zwangserkrankung. Es war befreiend für sie, zu erfahren, dass ihr zwanghaftes Haare-Ausreißen einen Namen hat. „Ich weinte. Eine jahrelange Last fiel von mir ab.“ Aber die Erleichterung hielt nur kurz an. Ihr Selbsthass wurde von Tag zu Tag größer, „weil ich es nicht schaffte, mit dem Haare-Ausreißen aufzuhören“. Mit den Perücken, die sie sich zugelegt hatte, um ohne Scham den Alltag meistern zu können, fühlte sie sich nicht wohl. „Ich dachte immer, dass andere sehen, dass ich eine Perücke trage.“

Es kam so weit, dass sie nicht mehr leben wollte. „Ich schaffte es nicht mehr. Ich kam mir nicht normal vor.“ Sie kam in spezielle ärztliche Behandlung. „Aber ich wollte immer noch sterben.“ Sabine verweigerte jegliche Nahrungsaufnahme und musste zwangsernährt werden. In der Klinik in Innsbruck regte sich erstmals wieder ihr Lebenswille. „Auf meiner Station waren viele Magersüchtige. Ihr Anblick schockierte mich.“ Der Schock war so groß, dass sie wieder zu essen begann. „Ich wollte wieder leben und kämpfen.“

Sabine trug auch Perücken. Aber richtig wohl fühlte sie sich mit ihnen nicht. "Ich dachte, die anderen sehen, dass es eine Perücke ist."
Sabine trug auch Perücken. Aber richtig wohl fühlte sie sich mit ihnen nicht. "Ich dachte, die anderen sehen, dass es eine Perücke ist."

Inzwischen hatte sie sich auch verliebt. Der Liebe wegen zog die gebürtige Bregenzerin nach Oberösterreich, wo sie eine Ausbildung zur Altenbetreuerin machte. Mit 24 Jahren wurde sie Mutter einer Tochter. „Mary war ein Wunschkind.“ Aber sie musste sie allein großziehen. „Mein Freund hat mich verlassen, als Mary vier Monate alt war.“ Sabine kehrte nach Vorarlberg zurück und fand im Haus ihrer Großeltern eine Bleibe. „Die Oma war in dieser Zeit ein großer Halt für mich. Schon als Kind liebte sie mich bedingungslos. Sie schimpfte nie mit mir, wenn ich mir die Haare ausriss. Sie liebte mich trotzdem von Herzen.“  

Sabine mit ihrer Tochter Mary.
Sabine mit ihrer Tochter Mary.

Nach der Trennung verschlimmerte sich Sabines Zwangserkrankung. „Ich rasierte mir jede Woche die Haare ab, damit die Perücke nicht rutscht. Meine Haare waren so kurz, dass ich sie nur noch mit der Pinzette ausreißen konnte.“ Als die geliebte Großmutter starb, verstärkten sich ihre Zwangshandlungen abermals. „Es wurde so schlimm, dass ich beschloss, eine Verhaltenstherapie zu machen.“ Ein Jahr lang ging sie jede Woche zu einer Psychologin. Sabines Ansporn war ihre Tochter, die zu ihr gesagt hatte: ,Mama, ich würde dir so gerne die Haare bürsten.‘“

Aus Kunsthaaren ließ sich Sabine Zöpfchen machen. "Da fühlte ich mich zum ersten Mal wie ein richtiger Mensch."
Aus Kunsthaaren ließ sich Sabine Zöpfchen machen. "Da fühlte ich mich zum ersten Mal wie ein richtiger Mensch."

Die Therapie zeitigte Erfolg. „Die Psychologin half mir so sehr, dass ich es schaffte, mir nicht mehr die Haare auszureißen.“ Im Zuge der Therapie  entschloss sich Sabine zu einer Haarverlängerung. „Mit den Kunsthaaren ließ ich mir Zöpfchen machen. Ab da fühlte ich mich als richtiger Mensch – das, was ich nie war.“

Sabine litt viele Jahre unter der Krankheit. Inzwischen sieht sie sie aber als Segen. „Ich bin Gott dankbar dafür, dass er sie mir geschickt hat. Denn durch sie bin ich heute der Mensch, der ich bin – gut und einfühlsam.“ Die gläubige Frau vertraut Gott mittlerweile vollkommen. „Er hat seinen Plan. Und der ist super. Bis jetzt hat er nichts Blödes gemacht.“ Sabine ist für alles, was von ihm kommt, dankbar, sei es gut oder schlecht. „Denn ich weiß, dass ich dadurch reifen und mich entwickeln kann.“

Sabine hat von Natur aus wunderschönes, lockiges Haar.
Sabine hat von Natur aus wunderschönes, lockiges Haar.

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