Wie im Wartesaal

Kennen Sie das? Auf dem Bahnhof einer großen Stadt dämmert es schon. Die letzten Züge rangieren. „Vorsicht an Bahnsteig 4“, schnarrt die Stimme aus dem Lautsprecher. Manche verspäten sich, andere kommen nie. Dann bleiben die Anzeigetafeln leer. Über dem Wartesaal wölbt sich die Decke hoch wie in einer Kirche. Im Gebälk nisten die Spatzen. Darunter verebbt das Kommen und Gehen. Manche dösen zusammengerollt auf ihren Bänken. Andere trachten danach, wach zu bleiben, um den letzten Zug nicht zu verpassen.
Das ist ihre einzige Aufgabe: Warten, gemeinsam warten. Das Bistro schließt bald, Automaten stillen den schnellen Hunger, im Salon der ersten Klasse flimmern die Bildschirme. Jetzt wäre Lektüre gefragt oder ein Schachbrett wie das der halbwüchsigen Geschwister, die weltvergessen ihre Züge setzen. Steht denn niemand auf, klettert in den Führerstand einer Lokomotive, um sich selbstständig auf den Weg zu machen? Das wäre ja auch zu toll! Allein der Gedanke ist absurd. Ein Passagier ist doch kein Lokführer, oder?
Irgendwie schade. Man bräche ja zu gern aus der Routine aus! Stattdessen wartet man ergebenst auf die Frühjahrsoffensive in der Ukraine, auf die nächsten Preise, die durch die Decke schießen, erwartet den Tag, an dem wieder ein gewissenloser Populist ans Ruder kommt. Das alles erwarten wir, als gehorchte das einem großen Fahrplan, den andere geschrieben haben. Und unsere größte Leistung liegt offenbar darin, uns das Warten gegenseitig so erträglich wie möglich zu machen.
Thomas Matt
redaktion@vn.at
Du hast einen Tipp für die VN Redaktion? Schicke uns jetzt Hinweise und Bilder an redaktion@vn.at.