“Axel, ich lasse dich los, du kannst gehen”

Petra Geißelmann (63) verlor ihren Sohn Axel. Sein Tod kündigte sich ihr im Traum an. “Gott forderte mich auf, Axel loszulassen.”
Bregenz Als kleines Mädchen fühlte sich Petra Geißelmann (63) fremd auf Erden. „Ich wollte zurück nach Hause, zu den Engeln im Himmel.“ Diese Sehnsucht war so stark, dass das Kind seiner Mutter mehrmals sein Leid klagte. „Mama, ich passe nicht hierher.“
Mit sechs Jahren erkrankte das Mädchen an einer Lungenentzündung, „wahrscheinlich, weil ich wirklich gehen wollte“. Das schwerkranke Kind litt nicht. „Es fühlte sich leicht an. Ich war auf dem Weg nach Hause.“ Petras Eltern aber waren überglücklich, dass sie überlebte.

Mit elf Jahren wäre Petra beinahe im Hallenbad ertrunken. „Ich bekam in beiden Füßen Krämpfe. Es tat weh. Ich ging unter. Und dann war es nur noch schön.“ Petra sah ihren Körper von oben und nahm wahr, was unten passierte. „Der Bademeister aß gerade ein Wurstbrot und trank Kaffee.“ Sie selbst fühlte sich zutiefst geborgen, war in die schönsten Farben eingetaucht und hörte wunderschöne Musik. „Solche Klänge habe ich nie mehr gehört.“ Aber die Seligkeit hielt nicht an. „Plötzlich war es dunkel. Ich war wieder da, am Beckenrand. Eine Schulkollegin hatte mich gerettet.“ Nach dem Geschehnis hatte sie das Gefühl, „dass ich in der Nähe meiner Heimat war“.
Im Lauf der Jahre verblassten die Erinnerungen an das Nahtoderlebnis. „Das Leben nahm seinen Lauf. Ich wurde Volksschullehrerin, so wie ich es mir bereits als Sechsjährige gewünscht hatte.“ Der Beruf war Berufung. Aber die Familie hatte eine noch größere Bedeutung in ihrem Leben. Petra schenkte zwei Söhnen das Leben: Axel und Jens.

Doch das Leben besteht nicht nur aus Höhen, sondern auch aus Tiefen. 2008 erkrankte Petra an Brustkrebs. Sie verfiel nicht in die Opferrolle. „Für mich war die Krankheit eine Aufgabe, von der man was lernen kann.“ Schon ihrer Familie zuliebe wollte sie wieder gesund werden. „Die Kinder waren noch nicht erwachsen. Ich wollte sie noch begleiten.“ Die zweifache Mutter sah im Krebs keinen Gegner, der bekämpft werden muss. „Kämpfen ist Krieg.“ Vielmehr nahm sie ihn an. „Ich akzeptierte ihn.“ Einmal mehr kam sie dem Tod sehr nahe. Aber Petras Stunde hatte noch nicht geschlagen.


Nur zwei Jahre später, im Jahr 2010, ereilte die Familie abermals ein Schicksalsschlag. Axel, der erstgeborene Sohn, erkrankte schwer. „In seinem Rückenmark wucherte ein bösartiger Tumor. Die Ärzte gaben ihm noch drei Monate.“ Ein Jahr nach der Diagnose, im Juli 2011, starb Axel, der vor seiner Erkrankung ein begeisterter Wasserretter gewesen war.

In der Nacht vor seinem Tod träumte Petra von ihrem sterbenden Sohn. „Im Traum sagte Axel zu mir: ,Mama, du kannst mich jetzt loslassen. Er hat gesagt, ich kann gehen.‘“ Petra wachte auf, nickte dann aber erneut ein. Der Traum kam wieder. „Und wieder sagte Axel zu mir: ,Lass‘ mich los. Er hat gesagt, ich kann gehen.‘“ Der dritte und letzte Traum in dieser Nacht war besonders eindrücklich. „Der ganze Raum war in goldenes Licht getaucht. Eine große Hand kam aus dem Licht, es war die Hand Gottes. Eine Stimme sagte zu mir: Du kannst ihn loslassen, er kann gehen.“

Am Morgen darauf musste Axel ins Spital, weil sich sein Zustand dramatisch verschlechtert hatte. Nachmittags zündete Petra zuhause eine Kerze an und legte sich in Axels Bett. „Ich wusste, was ich zu tun hatte. Es waren die schlimmsten Worte, die ich je aussprechen musste. ,Axel, ich lasse dich los, wenn du nicht mehr kannst. Du kannst gehen‘, sagte ich laut zu ihm.“
Abends kam Petras Mann Günter vom Spital heim, nahm sie in den Arm und sagte zu ihr: „Axel geht es gut, aber er ist nicht mehr bei uns.“ Es waren die schrecklichsten Momente im Leben von Petra. „Ich hörte mich schreien. Der Schmerz war so furchtbar. Es war, als ob man mir ein Teil vom Herzen herausgerissen hätte.“

Im Krankenhaus verabschiedete sie sich von ihrem Sohn. „Er lag friedlich im Bett, mit einem Lächeln im Gesicht. Das tröstete mich. Ich wusste, dass er jetzt in den Händen Gottes war.“
Vor der kirchlichen Verabschiedung ließ sich Petra von einem Cranio-Sacral-Therapeuten behandeln. „Ich war ganz bei und in mir. Plötzlich fand ich mich in der Natur wieder. Ich saß auf einem Stein und sah Axel unter einem Wasserfall. Er strahlte übers ganze Gesicht. Er rief mir zu: ,Hey Mama, schau mal her. Mir geht es so gut. Ich kann schwimmen, ich kann gehen, ich kann leben. Sei glücklich. Mama, bitte, lache und lebe.“ Nach der Therapie war sich Petra sicher, dass es Axel dort, wo er war, gutgeht. „Ich ging glücklich zur Beerdigung.“

Doch danach kam die Trauer. „Am liebsten wäre ich Axel nachgefolgt, weil ich wollte, dass der Schmerz nicht mehr da ist. Aber ich erkannte, dass das eine Form von Egoismus ist.“ Petra ließ ihre Gefühle zu. „Alle haben ihre Berechtigung.“ Sie fing an, ihre Gefühle zu malen. „Zu jedem Bild schrieb ich dazu, was es ausdrückt.“ Aus ihren Werken entstand das Buch „Eintauchen in mein Herz“.

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