Julia Ortner

Kommentar

Julia Ortner

Wenn viele die ­Contenance verlieren

Vorarlberg / 20.02.2023 • 22:29 Uhr / 3 Minuten Lesezeit

Der Herr Ballettdirektor trug offensichtlich ein sehr ausgefranstes Nervenkostüm und beschmierte im Foyer des Opernhauses Hannover das Gesicht einer Journalistin einfach mit Hundekot. Wiebke Hüster arbeitet für die renommierte FAZ, Ballettchef Marco Goecke hatte ihr vor seiner grausigen Attacke noch vorgeworfen, immer „schlimme, persönliche“ Kritiken über ihn zu schreiben. Ein paar Tage später versuchte Goecke öffentlich eine eher eigenwillige Art der Entschuldigung: Er sei vor der Attacke unter dem Druck der nervlichen Belastung zweier kurz aufeinander folgender Premieren gestanden – machte der Journalistin aber gleichzeitig weitere Vorwürfe, die mit ihren „oft gehässigen Kritiken“. Die Oper Hannover trennte sich in Folge von dem Choreografen, im gegenseitigen Einvernehmen.

Man könnte Marco Goecke mit seinem Ausbruch jetzt als Klaus-Kinski-Verschnitt abtun, doch diese hässliche Geschichte rund um Kränkung und Hundescheiße erzählt viel über die allgemeine Gereiztheit, die wir jetzt in unserer Gesellschaft zwischen diversen Gruppen erleben. Überall finden sich Entfremdung und Überforderung, das Verständnis für die Sichtweisen der anderen, des anderen fehlen oftmals. Die vergangenen Jahre haben viele mürbe gemacht und die Toleranz-Reserven erschöpft. Menschen, die entgleisen, erleben wir derzeit gerade auch rund um die Klima-Aktivistinnen und -Aktivisten, die sich für ihren Protest auf die Straße kleben. Diese jungen Leute, die sich offensiver Methoden des zivilen Widerstands bedienen, um möglichst große Aufmerksamkeit für die Klimakrise zu erreichen, mit „Klima-Terroristen“ zu vergleichen, ist ein gefährliches Spiel. Die Art des Protests muss einem nicht gefallen, natürlich kann man Organisationen wie „Die Letzte Generation“ dafür kritisieren, doch das weitere Aufheizen der Stimmung gegen sie führt zu einer Entmenschlichung. Die kann sich dann sogar gewaltvoll äußern, wenn etwa ein wütender Autofahrer auf einen Aktivisten am Boden eintritt, wie vor kurzem bei einer Protestaktion vor dem Wiener Westbahnhof – das ist ja nur ein Chaot, ein Radikaler und ich bin der Trottel, der hier nicht zur Arbeit fahren kann!

Derartigen Übergriffen muss man als Gesellschaft klar entgegentreten. „Ich bin gegen Gewalt, aber die Klimakleber sind auch selber schuld“ – solche Verharmlosungen von Gewalt sind indiskutabel. Man kann sich allerdings auch nicht bequem darauf zurückziehen, dass man selbst körperliche Übergriffe als zivilisierter Mensch klar verurteilt. Und man sollte sich nicht nur über andere erheben, die die Contenance verlieren. Sondern lieber einmal bei sich selbst und dem eigenen Diskussionsstil beginnen.

„Menschen, die entgleisen, erleben wir derzeit gerade auch rund um die Klima-Aktivistinnen und -Aktivisten, die sich für ihren Protest auf die Straße kleben.“

Julia Ortner

julia.ortner@vn.at

Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und arbeitet für den ORF-Report.

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