„Widerspruch zu weltweiter Realität“

Vorarlberg / 21.02.2023 • 17:44 Uhr / 4 Minuten Lesezeit

Experten wenden sich mit einem offenen Brief an die Staatsspitze und fordern eine sicherheitspolitische Debatte.

WIEN „Die kürzlich beschlossene Budgeterhöhung des Bundesheeres löst keine der oben erwähnten strategischen Fragen. Österreich verdient die Wahrheit: Der jetzige Zustand ist unhaltbar und gefährlich.“ Mit diesem Appell richteten sich jetzt 92 namhafte Experten an Bundespräsident Alexander Van der Bellen, Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) und Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP).

Neutralität mit Sinn erfüllen

Es ist bereits der zweite offene Brief, in dem unter anderen die ehemalige Höchstrichterin Irmgard Griss, Russland-Experte Gerhard Mangott, Unternehmer Veit Dengler, Migrationsforscher Gerald Knaus, aber auch Schriftsteller wie Robert Menasse, Julya Rabinovich und Doron Rabinovici indirekt eine Neutralitätsdebatte anstoßen. Auch der Lustenauer Bürgermeister Kurt Fischer (ÖVP) gehört zu den Unterzeichnern. „Die Frage, wie sich Österreich zukünftig in ein Sicherheitsgefüge in Europa einordnet, hat mich als politisch interessierten Menschen immer schon beschäftigt“, sagt er den VN. Spätestens seit 24. Februar 2022 sei Europa noch einmal in einer zugespitzten Situation. Als Lustenauer habe er auf politischer, aber auch auf privater Ebene Kontakte in die Schweiz: „Dort herrscht eine andere Ernsthaftigkeit in diesen sicherheitspolitischen Fragen.“ Man könne den Leuten nicht vorgaukeln, dass Österreich eine „Insel der Seligen sei“, da es von NATO-Ländern umgeben ist.

Eine Debatte über die Neutralität lehnt Fischer nicht prinzipiell ab, wie er ausführt: „Neutralität ist ein Wert. Man muss das aktiv immer wieder mit Sinn erfüllen. Was heißt Neutralität heute?“ Das heiße im Gegensatz aber nicht, so Fischer weiter, dass die Neutralität verabschiedet gehört.

Bereits im Mai haben sich 40 Unterstützer an die politische Spitze des Landes gewandt. „Unsere Neutralität wurde nie auf ihre aktuelle Zweckmäßigkeit überprüft“, hieß es da etwa. Eine Reaktion blieb aus. Daher ist die Kritik an der österreichischen Sicherheitspolitik nun umso schärfer: „Trotz der dramatischen Rückkehr des Krieges in Europa sind weite Teile der heimischen Politik und Gesellschaft der Illusion verfallen, Österreich könne so bleiben wie es ist, sich heraushalten, und mit etwas mehr Geld für das Bundesheer das Auslangen finden.“

Die Gruppe fordert eine Diskussion, mit welchen „pragmatischen Schritten“ Österreich besser geschützt werden könnte. Denn Russland verübe täglich neue Kriegsverbrechen an der ukrainischen Zivilbevölkerung, zur gleichen Zeit „tut Österreich so, als wäre die Welt am 23. Februar 2022 stehengeblieben“. Österreichs verfassungsrechtliche Grundlagen und Sicherheitsdoktrinen seien „noch immer anachronistisch“, das Bundesheer unvorbereitet, die Nachrichtendienste noch immer nicht ausreichend ausgestattet und von relevanten Informationen abgeschnitten. „Unsere sicherheitspolitische Position wird international von den einen belächelt, von den anderen als rückgratlos wahrgenommen.“

Bürger gefordert, mitzudiskutieren

Doch auch von den Bürgern fordern die Experten, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. „Viele Österreicher scheinen immer noch zu glauben, dass sich für unser Land nichts geändert hat, dass wir uns aus militärischen Konflikten heraushalten und uns in absehbarer Zeit selbstständig schützen können, dass eine friedliche Außenpolitik unsere Sicherheit garantiert und dass unsere aktive Mitwirkung an der Stabilisierung Europas nicht erforderlich ist.“ Diese Vorstellungen sei aber Ausdruck eines Widerspruchs zwische n österreichischer und weltweiter Realität. VN-JUS

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