Stimmt das?
Mein Enkel ist zu Besuch. Seit einem Jahr kann er lesen. Liest alles, was ihm in die Hände kommt. Reklame, Gebrauchsanweisungen und die kleingeschriebenen Zutaten auf der Ovomaltinedose. Liest vom Erdbeben in der Türkei. Sieht die Bilder.
„Ist das echt, Oma?“
„Ich wünschte, es wäre nicht echt“, sage ich.
„Lies mir alles vor, was da steht“, bittet er.
„Du kannst doch selber lesen. Bemüh dich. Schau nicht nur die Bilder an.“
„Aber das will ich nicht selber lesen, Oma! Oder lieber, Oma, bitte erzähl mir, was da steht. Oder sag mir, was du auf dem Bild siehst.“
„Du kannst doch selber sehen, dass auf diesem Bild ein Trümmerfeld ist, und darauf liegen Menschen in Tüchern, die tot sind. Menschen, die verschüttet wurden. Männer in gelben Jacken und Schirmmützen, mit Spaten in der Hand, versuchen, Lebende aus den Trümmern zu befreien. Da steht, eine Frau mit einem Kind ist nach vier Tagen gerettet worden. Stell dir vor. Die können das nie vergessen. Stell dir vor, deine Brüder sind unter den Trümmern, deine Mama, dein Papa, dein Fußballfreund!“
„’. . . schau dir das an, die armen Menschen müssen das aushalten, und wir wollen es nicht einmal ansehen.‘“
„Hör auf, Oma!“
Mein Enkel läuft aus der Küche.
„Bleib hier“, sag ich, „schau dir das an, die armen Menschen müssen das aushalten, und wir wollen es nicht einmal ansehen. Das geht doch nicht. Wie viel Taschengeld bekommst du?“, frage ich.
„Warum ich? Nur zehn Euro in der Woche.“
„Also“, sage ich, „dann spende die Hälfte den armen Menschen in Syrien und in der Türkei!“
„Warum in Syrien?“
„Weil da auch das Beben war, genau so schrecklich, aber weil die Regierung in Syrien Krieg führt, können die Hilfsgüter dort schlecht verteilt werden.“
„Oma, ich spende zehn Euro. Wie viel spendest du?“
„Zehn Euro sind zu wenig. Sieh dir dieses kleine Mädchen an, ganz zerschlagen sein Gesichtchen, es weiß nicht, wo es ist und was geschehen ist. Niemals in seinem ganzen Leben wird es diese Angst loswerden.“
„Dann 20 Euro, Oma, ich bin erst acht Jahre alt, und ich spare auf ein Schwert. Kann das bei uns auch passieren?“
„Weißt du, bei uns werden die Häuser besser gebaut, und wir wohnen in keinem Erdbebengebiet.“
„Würden wir so ein Erdbeben aushalten, Oma?“
„Ich fürchte, auch nicht. Deshalb müssen wir den Leuten Geld schicken, damit sie wieder neu anfangen können. Und denk dir, wie die frieren! Es ist Winter. Und stell dir vor, was mit diesen vielen Toten passiert. Die werden auf einen Haufen geworfen und dann verscharrt. Da sind Familienväter dabei, Buben so alt wie du, Mädchen, die gern gesungen haben, Mütter, die Lieblingskuchen gebacken haben …“
„Hör auf, Oma“, schreit mein Enkel, „hör auf, hör auf!“
Da habe ich ein schlechtes Gewissen. Seinetwegen und wegen der ganzen Welt.
Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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