„Die Neutralität wird nicht gelebt, sie überlebt“
Experten fordern Debatte über Österreichs Außenpolitik.
Wien, Bern Der russische Überfall auf die Ukraine hat die Sicherheitslage auf dem Kontinent drastisch verändert, darüber ist sich Europa einig. Hierzulande wurden etwa Rufe nach einer Debatte über die Außenpolitik Österreichs laut. Diese wurden von der Bundesregierung aber nicht erhört. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) erklärte eine Debatte über die Neutralität schon im März 2022 „für meinen Teil“ wieder für beendet.
Unwissend durch die Außenpolitik
Genau solch eine Debatte hat Österreich aber bitter nötig, sagt Martin Senn, Politologe an der Universität Innsbruck: „Uns fehlen gesicherte Kenntnisse darüber, was die Neutralität für einen Mehrwert hat, was sie uns im 21. Jahrhundert bringt.“ Dazu könnte zum Beispiel die Funktion als Brückenbauer in diplomatischen Konflikten zählen: „Aber wir wissen es einfach nicht gesichert.“
Ein anderer Aspekt, so Senn, ist die sicherheitspolitische Ausrichtung Österreichs: „Bisher war die politische Notwendigkeit für eine Debatte nicht gegeben.“ Das habe sich mit dem Krieg in der Ukraine geändert: „Teil der Neutralitätspolitik ist, dass man darüber reflektiert, wie sich die Rahmenbedingungen ändern und wie man sich dem anpassen sollte.“ In Österreich gelte hingegen eher das Prinzip: „Die Neutralität wird nicht gelebt. Sie überlebt.“ Angesichts der neuen Situation bezeichnete Völkerrechtsexperte Ralph Janik Österreich etwa einmal als „sicherheitspolitischen Schmarotzer“.
Keine Selbstreflexion in Österreich
Die österreichischen Verhandler vereinbarten mit der Sowjetunion im Moskauer Memorandum von 1955, „immerwährend eine Neutralität der Art zu üben, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird“. Dieses Dokument sollte später Grundlage für Österreichs Staatsvertrag werden, war aber nur politisch – nicht rechtlich – bindend. Genau diese Neutralität „wie sie von der Schweiz gehandhabt wird“, sei in Österreich aber seit Jahrzehnten kein Thema, kritisiert Senn gegenüber den Vorarlberger Nachrichten: „Die Schweiz ist an verschiedenen Punkten der weltpolitischen Entwicklung in einen Reflexionsprozess über das Wesen der Neutralität getreten.“ Dazu würden zum Beispiel Neutralitätsberichte – wie etwa nach den Kriegen im Kosovo oder im Irak – zählen.
„Die Neutralität tut uns gut!“
Den sieht auch Laurent Goetschel, Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung: „Im Moment wird in der Schweiz stark über die Art und Weise diskutiert, wie man die Neutralität lebt, ohne sie aber in Frage zu stellen.“ Eine Abschaffung des Neutralitätsstatus selbst – oder gar ein Beitritt zur NATO – ist in der Schweiz hingegen überhaupt kein Thema, sagt Goetschel den VN. Das liege auch daran, dass sie bereits 200 Jahre alt ist „und die Schweiz von den beiden Weltkriegen verschont wurde. Die Neutralität tut uns gut.“
Wie gut die Neutralität Österreich tue, müsse zuerst untersucht werden, glaubt Martin Senn. Klar sei aber, dass sich der Status Österreichs durch den EU-Beitritt verändert hätte. Und seit dem Vertrag von Lissabon, der eine Mitwirkung Österreichs an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit sich brachte, hätte die Regierung sowieso sehr weitreichende Kompetenzen. Trotz Neutralität. MAX
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