Aufarbeiten statt auslöschen
Frau Geiss hat den Wendler mit seiner neuen Show gecancelt – das klingt wie eine besonders wilde Attacke im Land der Reality-TV-Starlets. Für diejenigen, die sich die Lebenszeit für solche Formate sparen, eine Zusammenfassung der Erregung im deutschen Fernsehgeschäft: Carmen, Robert und die zwei Töchter Geiss leben ein BlingBling-Millionärs-Leben für die nach ihnen benannte RTL2-Doku. Michael Wendler, „der Wendler“ genannt, war Schlagersänger und hat in der Pandemie vor allem Verschwörungserzählungen verbreitet. Sein geplantes Comeback auf RTL2, bei dem der Sender seine schwangere Frau Laura und ihn beim Kinderkriegen begleiten wollte, platzte vergangene Woche – der Mutterkonzern RTL distanzierte sich nach Protesten von dem Projekt, RTL2 zog zurück. Und ja, Familie Geiss hatte wegen Wendler mit ihrem Ausstieg bei RTL2 gedroht.
Herr Wendler versteht die Welt nicht mehr und teilt seine Enttäuschung auf Twitter: „Ich habe mich für die Meinungsfreiheit und Grundrechte aller Menschen eingesetzt und vor den nicht nebenwirkungsfreien Corona-Spritzen gewarnt.“ Tatsächlich hatte er auf seinem reichweitenstarken Telegram-Kanal etwa die These eines „Dr. Coldwell“ weitergeleitet, dass fast alle Geimpften bis September 2021 tot sein würden. Oder im Zuge der Corona-Maßnahmen Deutschland als KZ bezeichnet. Er habe nicht „Konzentrationslager“, sondern „Krisenzentrum“ gemeint, behauptete er allen Ernstes. Heute sagt er, er sei kein Rassist oder Antisemit und bedauere viele seiner Äußerungen – nun wäre die Zeit, sich zu versöhnen.
Verzeihen braucht Zeit
Wendler hat also seinen Telegram-Account gelöscht. Doch Auslöschung bedeutet nicht: Hier ist nichts passiert, wir sind versöhnt. Öffentlich Verschwörungsmythen zu verbreiten, den anderen, die dafür anfällig sind, Angst machen ist kein Fauxpas, den man ungeschehen machen kann. Nach der Pandemie gibt es großen Bedarf an Versöhnung in unseren Gesellschaften. „Wir werden einander viel verzeihen müssen“, dieser Satz des damaligen deutschen Gesundheitsministers Jens Spahn von 2020 kann als Grundidee dafür dienen. Doch Versöhnung ist ein langer Prozess, der mit der Reflexion der eigenen Fehlleistungen beginnt und sie nicht weg redet.
Wenn jetzt auch zwischen Politik und Bevölkerung die Aufarbeitung der Pandemie beginnen soll, braucht man vor allem eine breite wissenschaftliche Untersuchung der Prozesse der vergangenen drei Jahre. Wie kann man etwa die Datenstrategie in der Gesundheitspolitik reformieren oder Schulen besser mit Schutzmaßnahmen ausstatten? Was nach den versöhnlichen Worten kommt, werden wir sehen, wenn die Aufarbeitungskommission hierzulande ihre Tätigkeit aufnimmt. Es wird ein langwieriger Job werden.
„Versöhnung ist ein langer Prozess, der mit der Reflexion der eigenen Fehlleistungen beginnt und sie nicht wegredet.“
Julia Ortner
julia.ortner@vn.at
Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und arbeitet für den ORF-Report.
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