In der Belohnungsmaschine
Artisten, Tiere, Attraktionen – nur im Internet und das vorzugsweise schnell geschnitten. Vor allem die Jüngeren informieren sich hier über Politik, filmen sich beim Singen oder Tanzen, erzählen über ihren Alltag oder lassen sich von Musikvideos berieseln: TikTok ist der Inbegriff der digitalen Häppchenkultur. Noch stärker als bei anderen Social-Media-Plattformen entscheidet der Algorithmus darüber, welche Kurzvideos man zu sehen bekommt. Mehr als einer Milliarde weltweit nutzen den Dienst, der andere Plattformen wie Twitter, Instagram oder Facebook hinsichtlich der auf ihnen verbrachten Zeit längst überholt hat. In Sachen schrill, bunt und schnell können sie nicht mithalten.
Nach den USA und Großbritannien verbietet nun auch Frankreich seinen Staatsbediensteten, TikTok auf ihren Diensthandys zu nutzen. Die EU hat die chinesische App auf den Dienstgeräten ihres Parlaments, ihrer Kommission und des Europäischen Rates untersagt – wegen Datenschutz-Bedenken und der Sorge, die App könnte für Spionage- oder Propagandazwecke benutzt werden.
Die chinesische Regierung bestreitet, chinesische Unternehmen zur Herausgabe von im Ausland gesammelten persönlichen Nutzerdaten zu drängen. Im wohltemperierten Österreich benutzen Politiker und Politikerinnen TikTok nach wie vor gerne, um junge Leute zu erreichen. Mit einem Verbot der Installation auf Diensttelefonen ist allerdings zu rechnen.
Der ständige Kick
TikTok ist die perfekte Inkarnation dessen, was der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz meint, wenn er das Internet als eine „Kultur- und Affektmaschine“ beschreibt. Der Kampf um die Aufmerksamkeit werde hier „eher durch affizierend wirkende – unterhaltende, empörende, faszinierende – Texte, Bilder oder Spiele gewonnen als durch affektarme Informationen“. Starke Emotionen mischen sich mit knapper Information und das wiederum ist die Basis des anderen Grundproblems der Plattform: Es kann vorwiegend junge Menschen durch den effektiven Algorithmus von seinen Segnungen abhängig machen. Noch ein Schnipsel, noch ein Kick.
Wie etwa eine Studie der Freien Universität Berlin schon 2019 belegt, bei der Menschen, die Social Media benutzen, mittels MRT untersucht wurden. Der Gehirnscanner macht sichtbar, was im Gehirn passiert, wenn wir posten, liken oder geliked werden: Sobald ein Like blinkt, blinkt es im Belohnungszentrum. Das wird sonst bei Essen, Trinken, Sex und Geld aktiv, aber auch beim Drogenkonsum. TikTok als die schnelle, kleine Belohnung, die niemals aufhört und für die man nicht einmal das Haus verlassen muss.
Es ist die große Sehnsucht nach sozialer Anerkennung, die so auch zur Gefahr für besonders angreifbare Menschen werden kann.
„TikTok kann Menschen durch den effektiven Algorithmus abhängig machen: Noch ein Schnipsel, noch ein Kick.“
Julia Ortner
julia.ortner@vn.at
Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und arbeitet für den ORF-Report.
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