Eine unermüdliche Kämpferin

Meinrad Pichler über die Textilarbeiterin Marie Leibfried-Brüstle (1869–1930).
Im März 1919 trat der konstituierende Nationalrat der Republik Österreich erstmals zusammen. Im vorausgegangenen Wahlgang hatten die österreichischen Frauen erstmals das aktive und passive Wahlrecht. Insgesamt acht Frauen wurden in dieses erste Parlament gewählt: sieben Sozialdemokratinnen und eine Christlichsoziale. So weit waren die Vorarlberger Parteien noch nicht. Bei der ersten Landtagswahl im April 1919 boten die vier wahlwerbenden Parteien insgesamt 131 Kandidaten und fünf Kandidatinnen auf. Alle Frauen rangierten aber auf chancenlosen Listenplätzen, die christlichsoziale Partei hatte erst gar keine Frau auf ihre Bezirkslisten gesetzt.
Die Sozialdemokraten platzierten die Arbeiterin Marie Leibfried an der zehnten Stelle im Wahlbezirk Feldkirch. Das war kein wirklich freundlicher Akt gegenüber einer langjährigen Aktivistin. Sie hatte bereits seit den 1890er-Jahren am Aufbau der sozialdemokratischen Parteiorganisation mitgewirkt und sich für den Zehnstundentag und das allgemeine Wahlrecht eingesetzt.

Marie Leibfried wurde am 31. Dezember 1869 in Lauterach in arme und schwierige Verhältnisse geboren. Ihre ledige Mutter Cäcilia Brüstle heiratete später den Kindesvater, einen italienischen Maurer, der aber bald darauf die Familie verließ. Das Mädchen erwies sich als ausgezeichnete Schülerin, konnte aber aufgrund der Familiensituation keine weiterführende Schule besuchen. Im Gegenteil. Da ihre Mutter kränklich war und es an Geld immer mangelte, musste Marie Brüstle bereits als Zwölfjährige in die Fabrik von „Herrburger & Rhomberg“ in Dornbirn. Als sie 17 war, starb die Mutter. Der Sarg sei noch kaum in der Erde gewesen, so erzählte Brüstle später, da habe der Pfarrer gefragt, wer ihm nun die Beerdigung bezahle. Diese als entwürdigend erlebte Erfahrung und ein Onkel, der bei der Eisenbahn arbeitete und sozialistische Ansichten vertrat, brachten die junge Frau zur Kirche auf Distanz und der Sozialdemokratie näher.
1895 heiratete Frau Brüstle den aus Böhmen stammenden Johann Coufal, der als Sekretär der Vorarlberger Arbeiterbildungsvereine engagiert worden war. Dieser starb aber bereits 1898 an Tuberkulose. Der Dornbirner Pfarrer informierte die Witwe, dass Coufal nur dann kirchlich begraben werde, wenn kein sozialdemokratischer Funktionär eine Grabrede halte. Diese Forderung lehnten die Witwe und die Parteileitung ab und so wurde der Verstorbene nur „mit socialdemokratischen Phrasen“, wie das katholische Volksblatt die Grabreden bezeichnete, beerdigt.
Im Jahr darauf verehelichte sich die junge Witwe mit Peter Mangeng aus Bartholomäberg, der als weltgewandter Charmeur beeindruckte, sich aber bald als übler Gauner entpuppte. 1902 wurde er wegen 16 schweren Betrugsdelikten zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Er hatte etlichen Frauen mit abenteuerlichen Geschichten Geld herausgelockt sowie einige von den Geprellten auch noch bedroht und bestohlen.
Im alten Österreich bestand zwar die gesetzliche Möglichkeit einer „Trennung von Tisch und Bett“, aber nicht die der Scheidung mit der Chance zu einer Wiederverheiratung. Außerdem musste der Mann einer Trennung zustimmen. Der im Gefängnis einsitzende Mangeng verweigerte diese Zustimmung bis zu seinem Tod im Jahr 1914. Immerhin aber unterließ er es, wie ihm von einem schwarzen Gerichtsbeamten geraten wurde, seine Frau wegen Ehebruchs zu klagen. Maria Brüstle-Mangeng lebte nämlich seit 1903 als Haushälterin bei Hermann Leibfried, dem Schriftleiter der sozialdemokratischen Zeitung „Vorarlberger Wacht“. Leibfried stammte aus Sindelfingen, war von 1898 bis 1900 Schriftsetzer bei J. N. Teutsch in Bregenz und hatte sich danach mit einem ausgezeichneten Dienstzeugnis in Dornbirn der sozialistischen Presse- und Parteiarbeit zugewandt.
Bis zu seinem Tod im Jahr 1918 war er Kopf und Seele des sozialdemokratischen Vereinslebens in Vorarlberg. Erst nach dem Tod von Peter Mangeng konnte er Marie Brüstle, die ihm zwei Töchter geboren hatte, ehelichen. Bis es allerdings so weit war, hatte das Paar schwere Zeiten durchzustehen. Die christlichsoziale Partei und deren Presseorgane zogen alle Register im Kampf gegen die linke Arbeiterbewegung: Schimpf und Spott waren begleitet von laufenden Anzeigen nach dem Pressegesetz. So wurde Leibfried 1912 wegen Majestätsbeleidigung verurteilt und als er die Strafe nicht sofort bezahlen konnte, gepfändet. Der einzige Wertgegenstand, den er besaß, war seine Uhr, die von seiner Lebensgefährtin ersteigert wurde. Noch im selben Jahr aber schritten die Gegner zum finalen Schlag gegen Hermann Leibfried und Marie Brüstle. Im Dezember 1912 wurde Leibfrieds Ansuchen um Aufnahme in den Dornbirner Heimatverband abgelehnt, obwohl er die gesetzlichen Auflagen erfüllte. Ein Antragsteller musste zehn Jahre unbescholten sowie ununterbrochen in der betreffenden Gemeinde gelebt haben und durfte in dieser Zeit nie die Armenversorgung in Anspruch genommen haben. Die christlichsoziale Ausschussmehrheit lehnte aber eine Aufnahme von Leibfried und Brüstle „wegen Bescholtenheit des Lebenswandels“ ab.
Nach wütenden Protesten des Sozialisten gegen diese Willkürmaßnahme doppelte die Rathausmehrheit noch nach. Sie verwies die beiden wegen „unmoralischen Lebenswandels“ der Stadt. Da war aber die Monarchie schon zu rechtsstaatlich, als dass ein Gemeindeausschuss sich mit moralischen Argumenten über Gesetze hinwegsetzen konnte. Sowohl die Statthalterei als erste als auch der Verwaltungsgerichtshof in letzter Instanz verwarfen den mutwilligen Gemeindebeschluss. Für die versuchte Vertreibung der Sozis hatte die sonst sparsame Stadt hohe Verfahrensausgaben und Anwaltskosten für ihren Rechtsanwalt Dr. Ferdinand Redler, den späteren Landesstatthalter, in Kauf genommen. Die Vertretung des diskriminierten Paares hatte der liberale Wiener Reichratsabgeordnete und Verfassungsexperte Dr. Julius Ofner angesichts des offenkundigen Unrechts gratis übernommen. Ende 1913 mussten Leibfried und Brüstle in den Dornbirner Heimatverband aufgenommen werden. Im Jahr darauf, nach dem Tod Mangengs, schlossen die beiden eine so genannte Salzburger Ehe. Ein kirchenkritscher Mönch segnete hier Ehen, die in den Heimatpfarren verwehrt wurden. Was dem Ehepaar Leibfried nun an gemeinsamer Zeit verblieb, waren die vier Kriegsjahre, die von materieller Not und intensiver karitativer Arbeit geprägt waren. 1916 wurde Marie Leibfried zur Landesvertrauensfrau der sozialdemokratischen Frauenorganisation gewählt. Dieser Wahl waren in den zwei Jahrzehnten zuvor zahlreiche Funktionen und politische Aktivitäten vorausgegangen. Und immer fühlte sich die klerikale Gegnerschaft durch die politisierende Frau provoziert und in ihrem als gottgegeben erachteten Frauenbild angegriffen.
Als Marie Leibfried mit einigen weiteren Frauen 1895 eine Versammlung des christlichen Arbeitervereins besuchte, empörte sich das katholisch Volksblatt, die Sozis hätten „die Unverschämtheit“ gehabt, „ihre famosen Sozinnen mit hereinzubringen, wohin kein Familienabend, sondern eine Männerversammlung einberufen war. Gegen diese frechen Dirnen wäre ein Protest von Seite des Vorsitzenden mit energischer Hinausweisung am Platze gewesen.“ Das war der Ton, in dem auch in den folgenden Jahren gegen politisch agierende Frauen polemisiert wurde. Als sich Frau Leibfried 1893 im Gemeindewahlkampf öffentlich engagierte, spottete die katholische Presse: „Wenn einmal das Reich Socialien gegründet ist, kann diese allzeit marschbereite Agitatorin Bürgermeisterin werden.“ Was die Herren damals für einen Scherz hielten, nämlich eine weibliche Bürgermeisterin, hat hundert Jahre später ihre Nachfolgepartei Wirklichkeit werden lassen.
Man könnte eine ganze Presseschau von Anfeindungen der katholischen Presse gegen die politische Tätigkeit und die Person Marie Leibfried zusammenstellen. Spott und Häme waren das harmlosere Stilmittel, Respektlosigkeit und Infamie das schärfere.
Nachdem auch in der sozialdemokratischen Partei nach dem Krieg die Schaltstellen wieder männlich besetzt wurden, zog sich Marie Leibfried, wie andere engagierte Frauen auch, ins zweite Glied zurück.
Am 30. Mai 1930 verstarb die unbedankte Kämpferin für Frauenrechte und soziale Gerechtigkeit im Hohenemser Spital. Leibfrieds Verabschiedung, bevor ihr Leichnam zur Kremation nach Konstanz gebracht wurde, gestaltete sich zu einem der letzten bedeutenden sozialdemokratischen Anlässe, ehe die Partei 1934 vom Dollfuß-Regime verboten wurde. „Als das schwarze Auto mit der toten Genossin sich in Bewegung setzte“, schrieb die von ihrem Mann gegründete Parteizeitung, „da folgten die Blicke noch lange dem Wagen, der uns eine edle und treue Kampfgefährtin für immer entführte.“
Biografisch-wissenschaftlicher Stand: März 2019.
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