Die Montafoner ­Tourismuspionierin

Vorarlberg / 30.03.2023 • 10:30 Uhr / 10 Minuten Lesezeit
Die Montafoner ­Tourismuspionierin
VORARLBERGER LANDESBIBLIOTHEK, MONTAFON MUSEUM

Meinrad Pichler über Viktoria Juen-Kessler (1839-1916).

Die derzeitige Situation im Vorarlberger Tourismus ist mehr als unerfreulich. Ohne Gäste muss die Infrastruktur instand gehalten und finanziert werden, um für eine ungewisse Normalisierung bereit zu stehen. Vorarlberg als Land an zwei nationalen Grenzen war und ist auf die Erholungssuchenden aus den Nachbarländern besonders angewiesen.

Die Montafoner ­Tourismuspionierin
Die würdige Wirtin Viktoria Kessler.

Ähnlich und doch ganz anders stellte sich die Situation in der Zeit des beginnenden Tourismus. Deutsche und Schweizer Touristen hätte es wohl gegeben, es fehlte aber die Infrastruktur. Die Schweiz und Tirol offerierten seit dem frühen 19. Jahrhundert ihre Bergwelt als gesunden Erholungs- und abenteuerlichen Erfahrungsraum für ein städtisch-bürgerliches Publikum. In Vorarlberg begann man erst Jahrzehnte später, die alpine Landschaft als touristische Attraktion zu erschließen. Voraussetzung dafür waren entsprechende Beherbergungsbetriebe, die Anlegung von Wanderwegen und Berghütten sowie ausgebildetes Personal, das die Fremden auf die ersehnten Berge führte. Ebenso wichtig waren die publizistischen Herolde, die in den städtischen Zentren von der Schönheit einer Region kündeten.

Die Gipfel der Silvretta und des Rhätikons übten eine besondere Faszination auf die frühen Alpinisten aus. Das Montafon entwickelte sich deshalb zu einem frühen Zentrum der gemütlichen Sommerfrische und des herausfordernden Bergsteigens. Die Landschaft bildete die Voraussetzung, initiative Menschen setzten deren Nutzung ins Werk. Eine der bedeutendsten Vorarlberger Tourismuspionierinnen war Viktoria Kessler, die Wirtin des Gasthofs „Rößle“ in Gaschurn. Ihr gebühre „das Hauptverdienst“, heißt es in ihrem Nachruf, „Gaschurn als Luftkurort in weiten Kreisen bekannt gemacht zu haben.“ Es gab in der Frühphase des Vorarlberger Tourismus etliche tüchtige Wirtinnen, keine von ihnen hat aber die Entwicklung eines ganzen Dorfes so nachhaltig geprägt wie die Gaschurnerin.

Die Montafoner ­Tourismuspionierin
Das Rössle nach Auf- und Ausbauten um 1900.

Viktoria Kessler wurde am 11. Februar 1839 als Kind des Schrunser Bäckers Josef Juen und der Maria Regina Sander, einer Tochter des Schrunser Vorstehers, geboren. Sie war das elfte von 14 Kindern des Ehepaares. Im elterlichen Brotladen lernte sie früh den Umgang mit Kundschaft und im nahen Ausland vertiefte sie ihre Geschäfts- und Menschenkenntnis. Sie arbeitete nämlich eine Zeit lang in einer Handlung im schweizerischen Einsiedeln, wo sie mit dem Wallfahrstourismus eine spezielle Form der Reisewirtschaft kennenlernte. Das war ihre Vor- und Ausbildung ehe sie 1864 nach Gaschurn kam. Ihre ältere Schwester Sabina hatte zehn Jahre zuvor den Rössle-Wirt Johann Anton Kessler geheiratet. Bei der Geburt ihres dritten Kindes war diese aber im Frühjahr 1863 verstorben. Und wie das früher oft naheliegende Praxis war, heiratete der Witwer ein Jahr später die jüngere Schwester der Verstorbenen. Nach der Geburt ihrer zwei Kinder stieg die neue Wirtin „mit Umsicht und Tatkraft“ in den Familienbetrieb ein. Dies war umso notwendiger, als ihr Mann im Jahr 1874 starb. Zu dieser Zeit verfügte das Rössle über 15 Gästebetten. Als Viktoria Kessler das inzwischen zum Hotel gewordene Gasthaus 1912 an ihren Sohn übergab, konnten in drei Häusern 50 Personen beherbergt werde. Die quantitative Ausweitung des Betriebs war die Folge des qualitativen Ausbaus. Gleichzeitig mit der Übernahme der alleinigen Verantwortung für das Dorfgasthaus und den Hotelbetrieb legte die Wirtin ein Gästebuch auf, das vom internationalen Publikum und der Vielzahl an mehr und weniger prominenten Bergsteigern zeugt.

„Comfort und Küche“, rühmte die Vorarlberger Landeszeitung, seien laufend verbessert worden. Auch das Organ des Alpenvereins sparte nicht mit Lob. „Frau Kessler,“ hieß es da, „die liebenswürdige Besitzerin des Hotels „Zum Rößle“, unterlässt nichts, was dazu beitragen kann, ihren Gästen den Aufenthalt an dem an Naturschönheiten so reichen Erdenfleck zu einem recht gemütlichen und angenehmen zu machen.“

Eine glückliche Gleichzeitigkeit half der Rössle-Wirtin und dem aufstrebenden Urlaubsort Gaschurn zu überregionaler Bekanntheit. Der 1866 eingesetzte Frühmesser Franz Josef Battlogg konnte mit seiner musikalischen Begeisterung und Begabung in dem Tausendseelendorf über 60 Personen, in der Mehrzahl Frauen und Mädchen, dazu motivieren, über den Kirchengesang hinaus schwerste Chorliteratur einzustudieren. Zu besonderen Anlässen gab der „weit und breit rühmlichst bekannte Musterchor von Gaschurn“ an Sonntagnachmittagen weltliche Konzerte im Rössle. Der weitgereiste und kunstsinnige Schriftsteller Alfred Meißner bekannte nach einem Probenbesuch im Gaschurner Schulhaus, „dass der Eindruck, den ich empfangen, zu den stärksten und eigenartigsten musikalischen Eindrücken gehört, deren ich mich überhaupt erinnere.“ Kirchenmusiker und Chormeister aus ganz Österreich pilgerten nach Gaschurn, um den Battlogg-Chor zu hören. Ein Besucher meinte nach einer Aufführung, er sei „ganz eigentümlich bewegt, als hätte ich im Schutt und Geröll eine fabelhafte Blume oder einen wunderbaren Stein entdeckt.“ Über „Schutt und Geröll“ mokierten sich Gaschurn-Besucher immer wieder, wenn sie die schlechten Straßenverhältnisse im Innermontafon beschrieben. Diesen Zustand zu verbessern, galten laufende Bemühungen der Rössle-Wirtin. 1888 hatte sie mit der Errichtung einer Poststation in Gaschurn eine wesentliche Etappe für ihren Ort gewonnen. Damit der nun regelmäßige Postkutschenverkehr aufgenommen werden konnte, musste die Zufahrtsstraße verbessert werden. Die Funktion der Postmeisterin übernahm die Wirtin selbst, das Postamt wurde in ihrem Haus eingerichtet. Als die Station 1890 zu einem Post- und Telegraphenamt ausgebaut wurde, leitete ihre Tochter die Dienststelle.

Frühmesser Battlogg brachte aber nicht nur mit seiner Kunst Publikum ins Montafon, er war auch ein anerkannter Bergsteiger. Etliche Erstbesteigungen zum Teil mit berühmten Seilschaften zeugen ebenso von seiner alpinistischen Begeisterung wie zahlreiche Artikel über „Bergfahrten“ (so der damalige Ausdruck für Bergtouren) in touristischen Zeitschriften. Franz Josef Battlogg hat Publikum nach Gaschurn gerufen, Viktoria Kessler hat dieses versorgt, über den Abgang des Frühmessers hinaus gepflegt und zur jährlichen Wiederkehr animiert. Dazu bedurfte es aber laufender Verbesserungen des Angebotes.

Beim Ausbau ihrer Häuser war sie auf einen Mix von Tradition und Moderne bedacht. Das städtische Publikum erwartete gewohnten Komfort bei der Unterbringung und zugleich ländliches Flair als Gegenwelt. Im Rössle fand sich beides: moderne Zimmer und alte Stuben. In einem Reiseführer wurde die Pension der Witwe Kessler als ein „besonderes Haus, mit sehenswertem, altertümlichem Bauernzimmer und guter Einrichtung“ empfohlen. Auch Ludwig Hörmann, der schreibende Wanderer, pries das „weit entlegene Alpenhotel der Frau Kessler“ in höchsten Tönen: „Reinliche gute Betten, einen geschmackvollen Speisesaal, eine Kegelbahn, ein Schach, eine kleine alpine Bücherei, kurz – Alles ist da, sogar eine Badestube und ein Toilettenzimmer, eine Bequemlichkeit, die man leider selten antrifft.“ Seit 1904 gab es elektrisches Licht aus einem hoteleigenen Elektrizitätswerk und einen Telefonanschluss. In allen rühmenden Beschreibungen wird die Qualität des Hauses unmittelbar der „liebenswürdigen Besitzerin“ zugeschrieben.

Die Initiativen der Rössle-Wirtin reichten aber über ihr Haus hinaus. Nicht nur „die Umwandlung Gaschurns zum Kurorte“ sei „das Werk von Frau Kessler“, fand ein Wiener Journalist Worte der Anerkennung, vielmehr habe sie „in das Volksleben neugestaltend eingegriffen.“ So kämpfte sie für eine Verbesserung des Weges auf das Zeinisjoch und initiierte die Anlegung von Wanderwegen, die nach berühmten Stammgästen benannt wurden. Unter den fünf Gründungsmitgliedern der Innermontafoner der Sektion des Alpenvereins war sie die einzige Frau und 1888 firmierte sie als Mitbegründerin eines örtlichen Verschönerungsvereins.

Im Gegensatz zu anderen bekannten Wirtinnen – wie etwa der ebenfalls gerühmten Maria Mayer von der Krone in Schruns – fanden Person und Leistung der Viktoria Kessler auch in der katholischen Presse Anerkennung, obwohl der Tourismus im Allgemeinen und das touristische Publikum im Besonderen skeptisch gesehen wurden. Man fürchtete, dass mit den Reisenden städtische Amoral und liberales Gedankengut eingeschleust werde. Viktoria Kessler wurde dafür gerühmt, dass keine ihrer weiblichen Bediensteten „gefallen“ sei. Auf deren Sittsamkeit habe sie immer besonderes Augenmerk gelegt. Auch dass sich die „resolut tüchtige Wirtin“ im Alter in das Kloster Gauenstein zurückgezogen hat, rundete das Bild der Wirtin, die zuvor in den Augen vieler eine für eine Frau unangemessene Öffentlichkeit erfahren hatte, versöhnlich ab. Ein Schweizer Professor sah in ihr eine Gastgeberin, die „aufrecht und gütig wie eine Königin des Tals“ auf die Gäste zugegangen sei. Das klingt wie die Beschreibung des aktuell gewünschten Berufsbilds im familiengeführten Tourismusbetrieb.

Biografisch-wissenschaftlicher Stand: Mai 2020.

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