Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Schlechtes Gewissen

Vorarlberg / 31.03.2023 • 06:30 Uhr / 4 Minuten Lesezeit

Else wollte ein gutes Kind sein – was sehr anstrengend ist.

Sie hatte von Mutters Lieblingspflanze ein Blatt abgezwickt. Eigentlich wollte sie es gar nicht. Ihre Hand hat es gemacht. Die Lieblingspflanze hieß Zimmerlinde, und ihre Blätter waren weich, lindgrün mit feinen Härchen, die sich bewegten, wenn die Tür aufging. Elses Schwester dagegen war immer ein gutes Kind, und es fiel ihr leicht. Sie glänzte die Abwasch und kämmte die Teppichfransen.

Es gab dann noch einen kleinen Bruder, der in der Wiege schlief. Wenn er still dalag, konnte Else es kaum aushalten, und sie musste ihn an den Fußsohlen kitzeln. Er wachte nicht auf. Da zwickte sie ihn, und er weinte.

„Else“, rief die Mutter, „sing ihm das Schlaflied!“

Vor dem Küchenfenster wuchs ein Vogelbeerbaum mit seinen roten Beeren. Die Mutter aß sie roh, und ihr Mann sagte: „Blausäure in den Kernen, meine Liebe, tu das nicht. Wir brauchen dich noch.“

Wenn er still dalag, konnte Else es kaum aushalten, und sie musste ihn an den Fußsohlen kitzeln.

In das Vogelhäuschen legte die Mutter zum Futter eine Scheibe Butter dazu. Wie beim Pudding, den sie den Kindern zubereitete. Die Butter schmolz, und die Kinder rührten um.

Außerdem hatte die Mutter eine Beziehung zu den Rehen, die hinter dem Haus am Waldrand auf sie warteten. Sie zerkleinerte einen Kohlkopf und verfütterte ihn. Else durfte nicht mitgehen, die Mutter sagte, weil die Rehe so scheu sind. Sie redete mit den Rehen. Else fragte die Mutter, was sie redet, und sie sagte, sie erzählt den Rehen von ihren Sorgen. Das wollte Else hören, und sie hat sich angeschlichen und zugehört.

Die Mutter sagte: „Was soll ich nur mit Else machen, ich weiß, sie ist ein gutes Kind, aber sie ist furchtbar. Sie zwickt das Baby, und dann küsst sie es.“
So. Und dann hat sie Else hinter der Tanne gesehen, und sie hat sie zu sich gerufen. Else hat zu ihr gesagt: „Mama, ich liebe dich mehr als den lieben Gott.“
Da bekam die Mutter ein schlechtes Gewissen, so ist das mit dem schlechten Gewissen, es wird weitergegeben und hört nicht auf. Die Frau sagte am Abend zu ihrem Mann, dass sie sich schuldig fühle, weil sie ungerecht sei, und ihr Mann sagte: „Ach, meine Liebe, wer ist denn nicht ungerecht. Das sind wir doch alle. So ist der Mensch. Besonders die Frauen. Sie fragen nach allem. Das ist nicht gut. Davon wird man krank. Lass alles so stehen, wie es ist.“

Seine Frau fragte: „Aber du hast doch auch oft ein schlechtes Gewissen, oder?“, und ihr Mann zuckte mit den Schultern und sagte wieder: „So ist der Mensch.“
Die Frau hakte nach und fragte: „Kennst du Menschen, die kein schlechtes Gewissen haben?“

„Und ob!“, sagte ihr Mann. „Denk an die Verbrecher, die über Leichen gehen.“
„Über Leichen gehen“, fragte die Frau, „im übertragenen Sinn?“ Denn sie stellte es sich im wörtlichen Sinn vor.

Else hatte auch dieses Gespräch belauscht. Und sie lauschte, als die Mutter am nächsten Tag den Rehen von diesem Gespräch erzählte.

Monika Helfer

monika.helfer@vn.at

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.

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