Und wo bin ich im Bild?

Ikonen werden geschrieben, nicht gemalt. Am Palmsonntag stehen da eine Frage und ein Aufruf.
Feldkirch Die junge Frau ist in Eile. Erschöpft wirkt sie auch. Ihre schwere Tasche hat sie auf den Boden gleiten lassen, für einen Augenblick nur. Von draußen dringt die übliche Alltagsmischung aus Fahrradklingeln und Kinderlachen in die Feldkircher Frauenkirche, die seit 1990 die serbisch-orthodoxe Gemeinde beherbergt. Die Besucherin steht ganz versunken. Sie hält die Augen geschlossen und bewegt lautlos die Lippen. Es scheint, als spräche sie zum Bild. Dann küsst sie die Ikone und bekreuzigt sich zweimal. Sie geht.
Für Maria und Norbert Duffner sind solche Szenen ganz normal. Das Theologen-Ehepaar lebt in Rankweil. Die beiden sind so etwas wie das lebendige Bindeglied in die Orthodoxie. Die Eltern von sechs Kindern haben beide ein Arbeitsleben lang Religion vermittelt und die Liebe zu den östlichen Kirchen zu ihrem Lebensprogramm gemacht.
Geschrieben, nicht gemalt
Die Ikone zum Palmsonntag stammt aus der Sammlung von Hubert Lenz. Der Generalvikar der Katholischen Kirche Vorarlbergs hat lauter Ikonen des 89-jährigen Rudi Jankovic aus Tosters ausgewählt. Maria Duffner liest sie mühelos. „Denn Ikonen werden nicht gemalt, sie werden geschrieben“, erklärt sie. Aus der Glanzzeit der byzantinischen Kultur stammt auch das Wort vom „Ikonographen“, dem „Bilderschreiber“. Also wollen diese Bilder auch gelesen werden.
Und was steht da? Maria Duffner lächelt. Sie nimmt den Betrachter an der Hand. Also gut: „Das ist der Einzug Jesu in Jerusalem. Das kennen wir.“ Am Palmsonntag wird der triumphale Weg des Predigers aus Nazareth auch in vielen Vorarlberger Gemeinden prachtvoll nachgestellt. Aber die Ikone zeigt noch mehr. Maria Duffner weist auf das Eselfüllen hin, auf dem Christus zum Stadttor reitet. „Das Eselfohlen gilt seit der Zeit der Propheten im Alten Testament als Kennzeichen des Friedensfürsten.“ Ein Esel also, kein Streitross. Die Menschen jubeln ihm trotzdem zu. Kinder breiten Kleider aus, schwenken Palmzweige. In wenigen Tagen wird der Jubel verstummen. Dann schreien dieselben Menschen dem römischen Statthalter Pilatus hasserfüllt zu: „Kreuzige ihn!“
Jesus sitzt als Reiter ein wenig sonderbar auf dem Rücken des Tieres, irgendwie ungelenk. Auch das hat eine Bedeutung. Er sitzt in derselben Haltung, in der er auf anderen Ikonen als Weltenherrscher (Pantokrator) dargestellt wird. Auf dem Thron hält er Gericht am Ende der Zeiten. Auch, dass seine Jünger von ihm aus gesehen rechter Hand, die wankelmütige Jubelmenge aber links steht, ist kein Zufall. „Diese Anordnung erinnert an die Gerichtsrede im Matthäusevangelium.“ Der Evangelist erzählt darin, wie der Gottessohn die zu seiner Rechten segnet, die zu seiner Linken aber verdammt.
Bin ich im Bild?
Wenn sich heute einer auskennt, sagt er: Ich bin im Bilde. Maria Duffner münzt diese Redensart auf die Ikone um: „Ganz anders als in den westlichen Gemälden nach der Romanik liegt bei den Ikonen der zentrale Punkt nicht im Bild, sondern vor dem Bild.“ Nämlich beim Betrachter: Andere Gemälde wollen bewundert werden, „die Ikone aber fragt Dich: Wo bist Du im Bild?“ Bei den Jüngern? Oder in der Menge? Und wenn ja, wie könnte ich die Seiten wechseln?
So schreibt der Ikonenmaler am Eingang der Karwoche eine entscheidende Botschaft aufs Holz: „Wir alle müssen verantworten, was wir tun. Jetzt ist der Augenblick umzukehren.“ Die Karwoche eröffnet die Chance zum Sinneswandel. Das scheint in vielerlei Hinsicht brandaktuell zu sein.
Fenster in die andere Welt

Die Berichterstattung zur Karwoche begleiten heuer Ikonen. „Sie sind“, sagt Maria Duffner nach kurzem Nachdenken, „Fenster in die Ewigkeit“. Meist auf Holz gemalt, blicken erstarrte Gesichter, oft in einer kindlichen Attitüde, den Betrachter an. Und doch: Nie treten Menschen in orthodoxen Kirchen vor die Ikone, ohne in kurzer Zwiesprache zu verharren, sich zu bekreuzigen, das Bild zu küssen. Warum eigentlich? Die Karwoche ist ein guter Ort, darüber nachzudenken. Das tun wir, gemeinsam mit der Theologin Maria Duffner und Generalvikar Hubert Lenz.
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